Neue Wege der Erinnerungskultur

11.06.2019

Jugendliche Besucher in der Gedenkstätte Ausschwitz
Foto: Burak Yilmaz

Im Rahmen seines Projekts „Junge Muslime in Auschwitz“ zeigt der Pädagoge Burak Yilmaz, wie mithilfe von dialogischen und künstlerischen Formaten antisemitische Stereotype hinterfragt und so eine differenzierte Erinnerungskultur entwickelt werden kann. Im Mai wurde Yilmaz deshalb neben anderen als Botschafter für Demokratie und Toleranz 2019 ausgezeichnet.

Von: Konstantin Alexiou

Über 60 Prozent der Bevölkerung im Duisburger Stadtteil Obermarxloh haben eine Migrationsgeschichte. Der türkeistämmige Pädagoge Burak Yilmaz bildet hier unter dem Trägerverein „Jungs“ männliche Multiplikatoren aus Einwandererfamilien aus. Etwa zehn Jugendliche werden bei einer zweijährigen Schulung befähigt, mit Gleichaltrigen in Bildungs- und Jugendzentren zu arbeiten. Dabei berücksichtigt Yilmaz alle Formen von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft. Die Forderung nach einem Ende der Erinnerungskultur im Kontext des Holocaust, wie sie die Rechtspopulisten stellen, kritisiert der gebürtige Duisburger als antisemitisch. Er plädiert für eine differenzierte Erinnerungskultur, um auch Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien zu erreichen. Im Interview spricht Burak Yilmaz über sein Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“.

Herr Yilmaz, Sie arbeiten in Duisburg-Obermarxloh mit männlichen Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Welche Themen spielen für sie eine Rolle?

Unsere Jugendlichen haben Fragen bezogen auf ihre soziale Rolle: Was bedeutet Männlichkeit? Welche Erwartungen stellt die Gesellschaft an mich als Mann? Und bin ich mit diesen Erwartungen einverstanden? Es sind Jungen und heranwachsende Männer mit Migrationsgeschichte dabei, die sich in Stereotypen nicht wiederfinden. Und andere, die eben mit diesen Bildern, etwa mit dem von körperlicher Stärke, darauf antworten. Bei unserer Auseinandersetzung dekonstruieren wir diese Bilder und beschäftigen uns mit Sexismus und Antisemitismus. In der Vorstellung vieler Jugendlicher sind sie mit Männlichkeit verknüpft.

Wie finden Sie Zugang zu diesen Themen?

Das geschieht über die Biografien der Jugendlichen. Bei unserer Arbeit mit den Begriffen der Ehre und Männlichkeit stellen wir fest, dass die Familiengeschichte eine zentrale Rolle spielt. Das Bild von Männlichkeit hat sich über die Generationen hinweg verändert. Unsere Jugendlichen erleben, dass die Ansprüche an sie gestiegen sind, und sie finden im Schulalltag wenig Raum, sich mit der Migrationsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern und dem innerfamiliären Generationenkonflikt auseinanderzusetzen. Wir gehen mit ihren Biografien wertschätzend um, hinterfragen sie aber auch kritisch.

Bei Ihrem Programm „Junge Muslime in Auschwitz“ besuchen Sie in Kooperation mit dem Zentrum für Erinnerungskultur seit 2012 das ehemalige Vernichtungslager in Polen und entwickeln Theaterstücke über die Erfahrungen. Wie bereiten Sie sich mit den Jugendlichen auf den Besuch vor?

Wir arbeiten zeitintensiv noch einmal mit den Biografien unserer Teilnehmer. Die Familiengeschichte wird anhand von Rollenspielen tiefgehend rekonstruiert. So evozieren wir weitere Fragen zur Geschlechterrolle und kulturellen Identität. Außerdem setzen wir uns mit den Opferbiografien auseinander. Sehr viele Duisburger und Duisburgerinnen sind nach Auschwitz deportiert worden. Damit veranschaulichen wir unseren Jugendlichen, dass das Vernichtungslager außerhalb von Deutschland den lokalen Bezug hat. Dadurch entwickeln sie einen persönlichen Zugang. Die Herstellung des Theaterstücks im Anschluss an den Gedenkstättenbesuch dauert übrigens sogar bis zu einem Jahr.

Wie erleben Ihre Jugendlichen den Besuch in Auschwitz?

Sehr unterschiedlich. Manche spüren Wut und Trauer, andere bauen emotionale Schutzmechanismen auf. Auschwitz ist ein Ort des Terrors. Und ein Friedhof. Uns ist es deswegen wichtig, dass der Besuch freiwillig stattfindet. Einige Jugendliche sagen uns von vornherein, sie wollen sich diesem Ort nicht aussetzen. Das respektieren wir.

Die Idee für den Besuch kam aber sogar von einem Jugendlichen.

Wir hatten bereits darüber nachgedacht, wie Erinnerungskultur für Jugendliche mit Migrationsgeschichte aussehen könnte. Als uns ein Jugendlicher erzählte, dass sein Lehrer sein Interesse an der deutschen Geschichte abblockte – die Shoah habe mit ihm als Türkeistämmigen nichts zu tun – , entstand die Idee für „Junge Muslime in Auschwitz“. Auf die Schüler und Schülerinnen in Duisburg kommen leider weiterhin nur sehr wenige Lehrkräfte mit Einwanderungsgeschichte. Für unsere muslimischen Jugendlichen ist der Bezug zum Antisemitismus meist der Nahostkonflikt, der im Geschichtsunterricht kaum behandelt wird. Auch den thematisieren wir im Anschluss und sprechen über jüdisches Leben in der Gegenwart.

Sie sagen, die zehn Teilnehmer mit türkischer, kurdischer oder arabischer Einwanderungsgeschichte würden nach ihrer Ankunft in Auschwitz ausschließlich wie Deutsche behandelt und mit der deutschen Täterschuld konfrontiert. Wie gehen die Jugendlichen damit um?

Sie erleben, was es bedeutet »deutsch« zu sein, aus der Schuldperspektive auf die Shoah zu blicken. Das ist ein extrem verunsichernder Moment für unsere Jugendlichen, weil sie die deutsche Täterperspektive in ihren Familienbiografien nicht kennen und in Deutschland nach wie vor als Migranten markiert werden. Wenn sie in Auschwitz mit Herkunftsdeutschen in Kontakt kommen, verteidigen unsere Jugendlichen das Aufrechterhalten von Erinnerungskultur. Wir hatten heftige Diskussionen, weil viele Herkunftsdeutsche meinen, Deutschland trage keine Verantwortung mehr.

„Du nennst mich ehrenlos. Was ist ehrenlos? Du denkst, Verachtung gegen Juden ist ehrenvoll?“ Ihre Theaterstücke spiegeln den sozialen Druck wider, dem die Jugendlichen ausgesetzt sind.

Das ist ein Grund, warum wir die Jugendlichen bei unserer engen Beziehungsarbeit stärken möchten. Der soziale Druck kann enorm sein und Widerstände auslösen. Weil die Jugendlichen ein Vertrauensverhältnis zu uns aufgebaut haben, kommen sie mit diesen Konflikten zu uns, und wir erarbeiten in Rollenspielen, wie sie in solchen Momenten Haltung zeigen können.

Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt auf den antisemitischen Videos, die sich in den sozialen Netzwerken verbreiten und den gesamtgesellschaftlichen, strukturellen Judenhass in Deutschland verstärken. Welche Gegenmaßnahmen wenden Sie an?

Diese Videos, die kursieren, sind neurechte oder islamistische Propaganda gegen jüdisches Leben. Wir analysieren diese Verschwörungsmythen und entwickeln eigene Clips, die wir verbreiten, um auch digital mit Gegennarrativen Aufklärung zu betreiben. Leider wird Antisemitismus aktuell vor allem Personen mit Migrationsgeschichte zugeschrieben. Es müssen jedoch auch Maßnahmen gegen den strukturellen Antisemitismus in der herkunftsdeutschen Gesellschaft stattfinden. Das erleben wir nicht in dem notwendigen Ausmaß.

Ihr Programm, für das Sie im letzten Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden, besitzt Modellprojektcharakter. Spüren Sie ein Interesse, es in anderen Städten zu adaptieren?

Ich freue mich sehr über das Bundesverdienstkreuz und die anderen Auszeichnungen, keine Frage. Diese Form der Anerkennung motiviert mich ungemein. Aber bis heute werden wir in unserer Struktur nicht finanziell gefördert. Erst dann könnten unsere Programme nachhaltig wirken und in andere Städte expandieren. Die Politik in Nordrhein-Westfalen war bisher nicht gewillt, uns eine langfristige Perspektive zu geben.

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