Und jetzt? Rassismuskritische Arbeit in der Kunst- und Kulturvermittlung

05.08.2019

Frau, Porträt
Filmstill aus „Ohneland“ (1995) von Hatice Ayten

Ein Schulworkshop im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt setzt sich im Rahmen der aktuellen Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“ mit institutionellem Rassismus und struktureller Gewalt in Deutschland auseinander. Welche Herangehensweisen sind notwendig, um gemeinsam mit Jugendlichen diesen komplexen Auseinandersetzungen sensibel und kritisch Raum zu geben? Die zuständigen Kunstvermittler*innen Juliane Phieler, Esther Poppe und Gözde Saçıak berichten von ihrer Arbeit.

Von: Juliane Phieler, Esther Poppe, Gözde Saçıak

Im Zeitraum der Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“ im Museum für Moderne Kunst Frankfurt wurden mehrere Fälle rechtsextremer Gewalt öffentlich – darunter die Drohbriefe des „NSU 2.0“ an die Anwältin Seda Başay Yıldız sowie der Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke. Beide Fälle sind eng mit dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) verwoben, zu dem es mehrere Werke in der Ausstellung gibt. „Weil ich nun mal hier lebe“ zeigt konkrete Situationen sowie Erfahrungen aus der Vergangenheit, erzählt von Einzelpersonen. Die Berichte sind zwar individuell und temporär verortet, das Problem dahinter ist jedoch zeitlos und strukturell:

“Die über künstlerische oder dokumentarische Zuschreibungen hinausgehenden Arbeiten dieser Ausstellung setzen sich mit strukturellem und institutionellem Rassismus in Deutschland auseinander, die einen Angriff auf unsere Gesellschaft darstellen. Dabei protokollieren, ergänzen und hinterfragen sie die Konstruktion einer nationalen Homogenität, in der rassistische Gewalt in all ihren Formen alltäglich, den vermeintlich Nichtbetroffenen jedoch oft nicht gegenwärtig, ist. Aktivist*innen und Betroffene rassistischer Gewalt erzählen von ihren Erfahrungen und ihrem Wissen, das systematisch aus dem behördlichen und medialen Diskurs ausgeschlossen wird.”[1]

Rassismus als gesellschaftliche Struktur

Durch die Summe und Überschneidungen einzelner Berichte in der Ausstellung wird Rassismus als gesellschaftliche Struktur sichtbar: Es handelt sich um migrantisch situiertes Wissen.[2] Die besprochenen Ereignisse sind vergangen, aber die migrantisch situierte Perspektive darauf sowie die rassistischen Strukturen, aus denen sie erwuchsen, sind es nicht. Das Thema der Ausstellung ist somit immer gleichzeitig vergangen und aktuell. Es erfordert von der Kunstvermittlung eine ständige Aktualisierung des Wissens und die Herstellung von Bezügen in die Gegenwart.

Die Ausstellung zeigt nicht die Historie des Rassismus, sondern spezifische Ereignisse der letzten Jahrzehnte aus der Perspektive einzelner Menschen. Zum Beispiel ein Interview mit einer jungen Frau aus dem Film „Ohneland“ (1995) von Hatice Ayten, die auf die rassistischen Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993) antwortet. Oder die Trauerdemonstrationen mit der Forderung „Kein 10. Opfer”, die 2006 in Kassel und Dortmund stattfanden und an der etwa 4.000 Menschen aus meist migrantischen und migrantisierten Communities teilnahmen. Gleichwohl hat Rassismus eine Historie, ohne die die Ereignisse nicht richtig eingeordnet werden können. Wir leben in einer post-nationalsozialistischen und post-kolonialen Gesellschaft und sind in beide verstrickt. Diese Historie und ihre Kontinuitäten thematisieren wir als Kunstvermittler*innen.

Langjährige aktivistische und zivilgesellschaftliche Arbeit

Die Werke in der Ausstellung zeigen, dass Betroffene von Rassismus diesen wiederholt, deutlich und öffentlich benennen. Und doch werden ihre Stimmen in der Mehrheitsgesellschaft überhört, ihre Perspektiven unsichtbar gemacht. Dieses Überhören und Nicht-Wahrnehmen-Wollen ist ein zentraler Kern des strukturellen Problems. Wegzuhören ist ein Privileg, das Rassismus-Betroffene nicht haben. Wem wir zuhören und wem nicht, ist hochpolitisch. Die Ausstellung fordert vom Vermittlungsteam eine bewusste Positionierung und Reflexion der eigenen Privilegien und der aller Besucher*innen. Es gibt keine Positionslosigkeit zu Rassismus, sondern nur unsichtbare und sichtbare Positionen.

Die Arbeiten in dieser Ausstellung sind durch eine besondere Schnittstellenhaftigkeit aus Kunst, Dokumentation, Aktivismus und Intervention gekennzeichnet. Sie sind selbst nicht nur in der Kunst entstanden, sondern beruhen auf langjähriger aktivistischer Arbeit und dem umfassenden Wissen zivilgesellschaftlicher Gruppen und Einzelpersonen. Die Werke entziehen sich der reinen Reduktion auf künstlerische Diskurse. So brechen sie mit den Erwartungen der Besucher*innen nach den gewohnten Verfahren einer ästhetischen Wahrnehmung.

In der Art, wie die Videoarbeiten in den Ausstellungsräumen projiziert werden, begegnen die Schüler*innen Rassismus-Betroffenen in Lebensgröße und auf Augenhöhe. Die Abstraktion des Rassismus wird gebrochen und die Schüler*innen werden direkt mit den Geschichten dieser Menschen und der Wirkung von Rassismus konfrontiert. Als Kunstvermittler*innen fragen wir uns, welche Rolle wir in dieser Ausstellung spielen. Wie kann Vermittlung gelingen, ohne die Betroffenen in den Werken zu unterbrechen oder für sie zu sprechen? Ein Schwerpunkt der Vermittlungsarbeit liegt im Herstellen von Situationen, in denen ein aktives und genaues Zuhören stattfinden kann. Momente der Entschleunigung sind wichtig, um die Art der Wahrnehmung, die diese Werke in der Ausstellung einfordern, zu gewährleisten.

Kunstvermittlung mit rassismuskritischem Bewusstsein

Die Aufgaben der Kunstvermittlung können nur auf der Grundlage eines rassismuskritischen Bewusstseins gelingen.[3] Dieses besteht für uns vor allem aus ständigem Reflektieren und Weiterbilden. So fand als Vorbereitung auf die Ausstellung ein Workshop mit der Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin Natasha A. Kelly statt, die uns Impulse für ein weiteres Nachdenken über Rassismus in Deutschland gab.

Wie sehen die Vermittlungsangebote konkret aus? Der Schulklassen-Workshop „Und jetzt?“ beginnt mit einem einstündigen Rundgang durch die Ausstellung, bei dem ausgewählte künstlerische Positionen vorgestellt werden.[4] Um die Inhalte zu verarbeiten, braucht es Zeit, Ruhe und Raum. Die anschließende Kleingruppenarbeit bietet die Möglichkeit, das gerade Gehörte zu reflektieren, zu hinterfragen und umzusetzen. Was macht das mit mir? Wem möchte ich davon erzählen? Ausgehend von diesen Fragen produzieren die Schüler*innen in Kleingruppen Videobotschaften zu einer selbst gewählten Arbeit.

Als Vermittler*innen wissen wir oft nicht, wie die Schüler*innen bei der Produktion ihres Filmes vorgegangen sind, wie die Rollen innerhalb der Kleingruppe verteilt wurden und welche Gespräche sie untereinander geführt haben. Das liegt einerseits daran, dass wir ihnen einen Gestaltungsfreiraum geben und so wenig wie möglich intervenieren möchten. Andererseits daran, dass ein bis zwei Kunstvermittler*innen bei Gruppengrößen von bis zu 25 Schüler*innen lediglich Impulse geben können.

Nach der Arbeit in Kleingruppen werden die entstandenen Videos der ganzen Klasse und den Lehrer*innen gezeigt und auch im Hinblick auf das Medium Video diskutiert. Es werden die folgenden Fragen besprochen: Wie war die gemeinsame Arbeit? Weshalb habt Ihr Euch für diese Arbeit entschieden? Wie ging es Euch dabei? Hat sich der Blick auf die ausgestellten Positionen verändert? Wie habt Ihr das in der Gruppe ausgehandelt? Wie habt Ihr die Rollen verteilt und wieso? Welche Formen der (körperlichen) Repräsentation habt Ihr gewählt?[5]

Die Zeit der Besprechung reicht jedoch nicht aus, um alle Arbeiten im nötigen Umfang zu reflektieren, es bedarf einer längeren Auseinandersetzung innerhalb des Unterrichts in der Schule. Den Lehrer*innen wird das Videomaterial zur Verfügung gestellt, jedoch haben wir als Vermittler*innen keinen Einfluss darauf, ob die Videos weiter besprochen werden.

Eigene Privilegien hinterfragen

Im gemeinsamen Anschauen der entstandenen Videos liegt großes Potenzial. Sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden und Betroffenheit wahrzunehmen und anzuerkennen, sehen wir als große Chance des Workshops. Für uns als Kunstvermittler*innen stehen das kritische Hinterfragen von Wissen und dessen gesellschaftlicher, historischer und hegemonialen Konstruiertheit im Vordergrund. Insbesondere möchten wir vermitteln, dass aktives Zuhören und Wahrnehmen essenziell sind und als politische Handlung verstanden werden können.

In Schule und Gesellschaft im Allgemeinen gibt es für Jugendliche oft wenig Raum für Körperlichkeit und ihre Bedürfnisse. Aber eben das ist wichtig, um Rassismus zu verstehen, Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen und den Versuch zu unternehmen, Perspektivenwechsel durch das Entgegensetzen von vielfältigen Informationen und Quellen zu ermöglichen. Durch gezielte Fragen und Pausen können Dissonanzen geschaffen werden, um Schüler*innen anzuregen, vermeintliches Wissen, versteckte Normen und Werte zu befragen und Diskussionsmöglichkeiten zu eröffnen.

Der Besuch der Ausstellung kann für einzelne selbst betroffene Schüler*innen auch gewaltvoll sein ob der Konfrontation mit Rassismus in den Werken oder innerhalb der Gruppe. Am Anfang der Workshops geben wir daher den Hinweis, dass die Themen den Schüler*innen nahe gehen können und dass sie auf ihre Bedürfnisse achten und sich zurückzuziehen können, wenn sie es brauchen.

Gruppendynamiken spielen eine wichtige Rolle in den Workshops. Reaktionen sind oft unbewusst oder verschlüsselt und äußern sich als vermeintliche Interessenlosigkeit, in Form von Beschwichtigungen, Provokationen, Müdigkeit, Schweigen oder Abwehr. Abwehr kann dabei verschiedene Gründe haben. Insbesondere für Rassismus-Betroffene kann es eine Form von Schutz sein. Auf der anderen Seite ist Abwehr oft eine Ablehnung der Konfrontation mit den eigenen Privilegien.

Der Workshop mit dem Titel „Und jetzt?“ stellt den Schüler*innen eben diese Frage. Als Kunstvermittler*innen bleibt für uns offen, wie das Gehörte in der Gruppe weiterverarbeitet wird. Gleichzeitig müssen wir uns selbst, wie alle Personen, die die Ausstellung besuchen, der Frage stellen, was wir mit dem Gehörten und Gesehenen machen. Lasse ich es zurück in der Ausstellung? Trage ich die Auseinandersetzung weiter? Was kann das bedeuten? Und jetzt?

Die Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“ ist vom 27. Oktober 2018 – 18. August 2019 im TOWER MMK zu sehen. Beteiligte Künstler*innen: Harun Farocki, Azin Feizabadi, Forensic Architecture, Natasha A. Kelly, Erik van Lieshout, Henrike Naumann, Emeka Ogboh, Spot_the_silence, SPOTS, Hito Steyerl, Želimir Žilnik

Fußnoten:

[1] Auszug aus der Ausstellungsbeschreibung

[2] Vgl. Güleç & Schaffer (2017) Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen. In: Karakayalı et al. (eds.) Den NSU Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: transcript Verlag, 57-80.

[3] Wir verwenden den Begriff „rassismuskritisch“ statt „antirassistisch“, da Rassismus eine Struktur ist, in der wir alle sozialisiert sind und die alle Gesellschaftsbereiche durchzieht. Wir entziehen uns der einfachen Dualität von „rassistisch“ und „antirassistisch“, und wollen stattdessen uns selbst und Strukturen immer wieder rassismuskritisch hinterfragen.

[4] Der Workshop dauert insgesamt 3 Stunden. Es nehmen vor allem Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen aus dem Rhein-Main-Gebiet und Hessen teil und haben eine Klassengröße von ungefähr 25 Schüler*innen.

[5] Es gibt Gruppen, die sich bewusst gegen eine körperliche Erscheinung entscheiden und nur mit Sprache oder Text arbeiten.

  • Antidiskriminierung
  • kulturelle Bildung
  • kulturelle Teilhabe
  • kulturelle Vielfalt
  • Antirassismus
  • Diversität