„Jede Sprache hat Wirkung und beeinflusst Realität“

12.08.2019

Jayrôme Robinet im Gespräch mit Alice Lanzke | Foto: Andi Weiland

Vor kurzem veröffentlichte der Schriftsteller Jayrôme Robinet sein vielbeachtetes Buch „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“. Nun erforscht er, wie Sprache auf der Bühne, Spoken Word und Poetry Slams, queerfeministische Menschen empowern können.

Von: Alice Lanzke

Es ist „Queer Week“ im Berliner Gorki und das Theater hat zur Lesung und Diskussion mit Edmund White und Jayrôme Robinet eingeladen. White gilt als eine Ikone der US-amerikanischen schwulen Literatur und kann ebenso lebendig wie eindrücklich von den Kämpfen im New York der 1970er Jahre berichten – aufmerksam belauscht von Robinet, ebenfalls Schriftsteller, der sichtbar aufgeregt neben ihm sitzt. Immer wieder stiehlt sich ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht, auf die erste Frage des Moderators antwortet er: „Ich muss zunächst einmal sagen, wie unglaublich es für mich ist, hier neben Edmund White zu sitzen!“ Dabei sind nicht wenige der Zuschauer!nnen [1] wegen Robinet zur Veranstaltung gekommen.

Sein Memoir „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“, das im Frühjahr 2019 im Hanser Verlag erschienen ist, wurde breit in den Medien rezensiert. Viele der Besprechungen lobten, dass Robinet in dem Buch nicht nur von seiner Geschlechtsangleichung erzählt, sondern davon, wie hartnäckig sich in unserer vermeintlich aufgeklärten Zeit immer noch bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit halten.

Eigentlich wollte er eine Liebesgeschichte erzählen, berichtet Robinet. Und tatsächlich finden sich in den Episoden auf dem Weg der Transition, den Widerspiegelungen von Zuschreibungen und Normen in unserer Gesellschaft, Andeutungen eben dieser Liebesgeschichte – eine Entwicklung in der Entwicklung, die das Buch noch persönlicher wirken lässt. Raffinierter dramaturgischer Kniff oder Wiedergabe von Realität? Robinet lässt seine Leser!nnen im Ungewissen, denn das Werk ist ausdrücklich eine Autofiktion, keine Autobiografie: „Ich habe mir die Freiheit genommen, nicht die ganze Wahrheit zu erzählen, zehn Personen etwa zu einer zu verschmelzen, und auch meine Katze heißt anders“, lacht er.

Robinet wurde 1977 in Frankreich geboren – im gleichen Jahr prägte der französische Schriftsteller und Literaturkritiker Serge Doubrovsky den Begriff der Autofiktion: eine Gleichzeitigkeit, die Robinet entzückt. „Autofiktion ist die Fiktion realer Ereignisse, Geschehnisse und Fakten“, erklärt er und führt weiter aus, dass die literarische Gattung nicht zuletzt Ergebnis einer linguistischen Wende durch den Strukturalismus in den 1970er Jahren war wie auch der Psychoanalyse: „Kein Mensch kann sich wirklich erinnern, Vergangenheit wird immer rekonstruiert.“ Gleichzeitig sei jede Fiktion durchdrungen von der eigenen Biografie. Und: In Unterhaltungsformaten komme immer stärker der Voyeurismus zum Tragen. „Internet, Blogs, Reality-Shows: Man will durch das Schlüsselloch schauen, und das spiegelt sich auch in der Literatur wider.“

Erklären und Verstehen

Robinets Motto lautet, die Dinge ernst zu machen, ohne sich selbst ernst zu nehmen. Dabei strahlt er eine Leichtigkeit aus, die zugänglich macht. Auch sein Memoir ist von dieser Zugänglichkeit gekennzeichnet: Obwohl er die Geschichte vorrangig für queere Menschen geschrieben habe, habe er nicht-queere Menschen nicht ausschließen wollen: „Es war ein Spagat: Nicht zu hermetisch sein, für Menschen, die sich mit der Thematik nicht auskennen, aber auch nicht zu erklärend wirken, denn ich wollte keine Handreichung schreiben.“ So bewege sich das Buch zwischen Erklären und Verstehen: „Beim ‚Verstehen‘ hatte ich queere Menschen im Kopf, im Sinne von ‚Ihr werdet verstanden‘.“ Das Erklären sollte hingegen das Thema greifbarer machen für diejenigen Leser!nnen, die queere, trans oder diverse Menschen noch nicht kennen.

Tatsächlich wird „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ von dieser Greifbarkeit gekennzeichnet, und das schon in der ersten Szene, als Robinet beschreibt, wie er im Fitnessstudio zum ersten Mal die Männerumkleide betritt. Oder aber, wenn er von den Testosteron-Spritzen erzählt oder den Reaktionen seiner Familie. Robinet doziert nicht, hebt nicht den Zeigefinger, sondern nimmt mit – auch zu jenen Momenten des Staunens, die er selbst auf seinem Weg erlebt hat: „Dinge, die ich vor der Transition nicht erwartet hätte.“

Zwei Personen unterhalten sich
Jayrôme Robinet im Gespräch mit Alice Lanzke | Foto: Andi Weiland

Ein Gespräch mit Robinet ist wie der Versuch, Glühwürmchen einzufangen: Schwer fassbar, aber es funkelt in alle Richtungen. Er kommt von Serge Doubrovsky zu Flaubert, von der französische Schriftsteller!nnengruppe „OuLiPo“ zur australischen Soziologin Raewyn Connell und es macht fast schwindlig, ihm bei seinen geistreichen Gedankensprüngen zu folgen. Eben jener Schwindel ist allerdings auch ein Motiv, das Robinet fasziniert. „Ich will die Fallhöhe von Wort zu Wahrheit verringern. Alternativ möchte ich lernen, den Schwindel zu ertragen“, heißt es an einer Stelle in seinem Buch, und es ist das Wortspiel darin, das es ihm angetan hat: „Den Eindruck zu haben, dass ich ein Schwindler bin, aber eben auch diese Fallhöhe zwischen dem, was wir sagen, und dem, was sozusagen die Wahrheit ist.“ Wobei er mittlerweile anzweifele, ob es eine Wahrheit gebe: „Aber das wäre mein Streben: So nah wie möglich an dem zu sein, was ich eigentlich sagen möchte.“

Verbindung von Körper und Sprache

Wenn Robinet über solche Doppeldeutigkeiten redet, ist seine Freude an der Sprache spürbar: Er ist von deren Wirkmacht überzeugt und zitiert in diesem Zusammenhang die Theorie der Sprechakte des Philosophen John Austin. Im Gegensatz zu Austin glaubt Robinet allerdings nicht, dass es eine rein beschreibende Sprache gebe: „Jede Sprache hat Wirkung, beeinflusst Realität.“ Wörter könnten verwunden und Sprache verletzen – sie habe entsprechend eine somatische Dimension: „Wenn es diese Verknüpfung zwischen Körper und Sprache gibt, dann glaube ich aber auch, dass diese heilen kann – von daher ist es wichtig, welche Sprache wir verwenden“, betont Robinet.

Für ihn als Schriftsteller und Übersetzer ist Sprache das zentrale Werkzeug – und das umso mehr für sein neuestes Vorhaben: Als Doktorand forscht er im DFG-Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ an der Berliner Universität der Künste (UdK) zu „Performance Poetry als Empowerment“ und das in queerfemistischen Kontexten. Robinet will zeigen, inwiefern Spoken-Word- oder Poetry-Slam-Formate, also auf einer Bühne gesprochene Texte, ermächtigend wirken können.

Dabei untersucht er drei Aspekte: Liveness, Technizität und Medialität. „Liveness bedeutet einfach, dass es ein Format ist, das vor Publikum stattfindet“, führt Robinet aus. „Meine Fragestellung ist: Was bewirkt diese Kopräsenz von Publikum und Poet!nnen?“ Derartige Formate seien auch sinnliche Erfahrungen: „Da ist der Körper, man riecht, man spürt, man vibriert, es gibt Resonanz.“ Reaktionen wie Klatschen, Lachen oder einfach Dableiben könnten Empowerment bewirken. Gleichzeitig impliziere Liveness auch, dass jede Performance in ihrem eigenen Verlauf entstehe, sie sei nicht reproduzierbar: „Und dadurch entsteht das Gefühl, etwas Einzigartiges erlebt zu haben.“

Proträtfoto von Jayrôme Robinet
Jayrôme Robinet | Foto: Andi Weiland

Der zweite Aspekt der Medialität betreffe hingegen direkt die Körperlichkeit von Spoken-Word- oder Poetry-Slam-Formaten: „Auf der Bühne kann man sich nicht verstecken.“ Und insbesondere queerfeministische oder trans-Menschen hätten oft verinnerlicht, dass ihre Körper nicht in die zweigeschlechtliche Norm passten: „Umso interessanter ist es, dass gerade in queerfeministischen Kontexten Spoken Word so beliebt ist.“

Mit Technizität meint Robinet zuletzt die Technik an sich: „Das Schreibverfahren, aber auch die Performance-Technik.“ Hier kommt er wieder zum Schwindelgefühl, denn die Überwindung von Lampenfieber könne ebenso eine Ermächtigungserfahrung sein. Gleichzeitig betrifft Technizität auch die technische Vermittlung: Wie veränderten Mikrofon und Verstärker die Wahrnehmung von Stimmen? Und das gerade bei Stimmen, die vielleicht geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen seien? Zudem bedeute das Mikrofon auch Macht: „Ich kann das Wort ergreifen, bin die Person, die spricht, und die anderen hören zu.“ Während es in Frankreich, Spanien oder den USA dabei mehr Interaktivität gebe, sei das Publikum in Deutschland sehr ruhig – so entstehe ein Machtgefälle: „Und wenn die Person auf der Bühne sich stark fühlt, dann überträgt sich das auch auf das Publikum.“

Folien für unseren Blick

Im April hat Robinet seine Stelle an der UdK angefangen; noch nennt er den Wissenschaftler nicht in der langen Liste seiner Berufsbezeichnungen, die von Schriftsteller über Übersetzer und Schreibpädagoge bis hin zu Spoken-Word-Künstler reicht. Er glaubt, dass es bestimmte Folien gebe, durch die wir Menschen sehen würden: „Vor der Transition war immer die Tatsache, dass ich Franzose bin, die Folie. Irgendwann wurde das trans-Sein die Folie – und vielleicht der Doktorand nun meine neue Folie.“ Er lacht, als er das sagt. Und gibt gleichzeitig wieder einen kleinen Einblick in das Staunen, das seinen Blick auf die Welt zu kennzeichnen scheint.

[1] In seinem Buch „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ steht folgende Vorbemerkung: „Das Ausrufungszeichen im Wort vereint das Binnen-I und den Unterstrich bzw. den Genderstern. Das kleine i wird auf den Kopf gestellt – dadurch soll abgebildet werden, dass körperlich und psychisch nicht nur die Pole ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ existieren, sondern es ein ganzes Spektrum von Geschlechtern, Geschlechtsidentitäten und Körperlichkeiten gibt. Diese Schreibweise ist inspiriert von der Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch, die sich wiederum von der Sängerin P!nk hat inspirieren lassen, deren Inspiration uns derzeit unbekannt ist.“ Und schließlich hat sich die Autorin dieses Textes davon inspirieren lassen und es hier als eine Möglichkeit für eine gegenderte Schreibweise ausprobiert.

Publikationen von Jayrôme C. Robinet:
- Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund, Berlin 2019.
- „Diversität und Sprache", in: Bundesleitung der Naturfreundejugend Deutschlands (Hrsg.): Vielfalt statt Einfalt, Berlin 2017, S. 94–108.
- „Poetry Slam-Workshop für LSB/T*I*", in: Alers, Kirsten (Hrsg.): Schreiben wir! Eine Schreibgruppenpädagogik, Baltmannsweiler 2016, S. 133–137.
- Wie eine Rose, die aus dem Riss im Beton erwächst – Empowerment von LSBT*I* Geflüchteten durch Beratung und Unterstützung, Eine Handreichung für Beratungsstellen, Berlin 2016.
- Das Licht ist weder gerecht noch ungerecht, Lyrik- und Prosaband, inkl. CD. Berlin 2015.
- Faut-il croire les mimes sur parole? Erzählband, La Laune 2007.
- „Prends ces mains, Aujourd’hui und Grains de riz", In: Félix Jousserand (Hrsg.): Blah! Une anthologie du Slam, Paris 2007, S. 105–115.
- Vous avez le droit d’être de mauvaise humeur, mais prévenez les autres! Erzählband, La Laune 2005.

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