Ambivalente Botschaften und Doppelbindung - Warum Kulturelle Bildung das Verlernen vermitteln sollte

16.10.2019

‘Double Bind’ von Charlotte Gyllenhammar, Gothenburg Museum of Art. | Foto: Bosc d'Anjou, Creative Commons

Um die Demokratie zu verteidigen, bedarf es mündiger und politisch denkender Bürger*innen. Wer dominante Denkgewohnheiten verlässt, kann die Ambivalenz – den double bind – der postkolonialen Situation ertragen und transparent machen: das Hin-und-hergerissen-sein zwischen business as usual und harscher Kritik am eurozentrischen Denken. Die postkoloniale Denkerin und Pädagogin María do Mar Castro Varela plädiert für eine ästhetische Bildungspraxis des Verlernens, die den notwendigen Raum für das Erfassen und Erzählen postkolonialer Situationen in ihrer Komplexität herstellt.

Von: María do Mar Castro Varela

„In her mind it was all fate, always meant to be, and therefore fundamentally uncomplicated.”
(Zadie Smith, Swing Time, 2017: 337)

Der angloamerikanische Sozialwissenschaftler, Philosoph, Anthropologe, Biologe und Kommunikationstheoretiker Gregory Bateson formulierte gemeinsam mit einem Team von Anthropologen Ende der 1950er Jahre die sogenannte Doppelbindungstheorie (double bind) (siehe Bateson 1972). Das double bind beschreibt, kurz gesagt, die lähmenden Folgen von gleichzeitig empfangenen sich widersprechenden Botschaften – sogenannte Doppelbotschaften. Das klassische Beispiel ist die Mutter, die ihr Kind schlägt und dabei sagt, dass es dasselbe liebe. Doppelbotschaften erweisen sich als besonders problematisch, wenn diese unbewusst empfangen und verarbeitet werden und als bedrohlich, wenn die Situation nicht verlassen werden kann und/oder das Sprechen darüber nicht möglich ist.

Die Literaturwissenschaftlerin und postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak (2012) bedient sich des Begriffs double bind in einer originellen Weise, um damit die spezifische postkoloniale Situation im Bildungskontext zu beschreiben und darauf aufbauend Schlüsse zu ziehen, die den Anspruch erheben, einen epistemischen Wandel vorantreiben zu wollen. Anders als die klassische Ideologiekritik, der es darum geht, das „falsche Bewusstsein“ zu enttarnen oder die radikalen dekolonialen Ansätzen, die ein anderes Wissen außerhalb des eurozentrischen Framings propagieren (siehe etwa Santos 2018), postuliert Spivak eine (kulturelle) Bildung, die sich nicht aus der dilemmatischen postkolonialen Situation hinausschleicht. Freilich ist es einfacher, entweder nur die eine oder die andere Botschaft zu hören. Um einen epistemischen Wandel zu erzeugen, darf das historische Geworden-Sein der Situation allerdings nicht in unzulässiger Weise simplifiziert werden. Aus diesem Grunde versucht sich ein Spivak‘sches Denken an eine Metakommunikation – wie sie Bateson anregt - um dem double bind nicht zu entkommen, aber zu verstehen und damit zu ertragen. Auch weil Ágnes Heller (2000, S. 22) zufolge, unter allen politischen Formen, die die Moderne erfunden hat, der Totalitarismus, das extremste Beispiel einer Doppelbindung darstellt, muss die historische Situation in all ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu verstehen versucht werden. Nur so können Strategien entworfen werden, die nicht in eine Entweder-oder-Sackgasse führen, die durch Frustration, Schuldgefühle oder auch heroische Gefühle gekennzeichnet bleibt. Konkret: Die einen glauben, dass sie dem Eurozentrismus der Kulturproduktionen durch einfache Denunziation westlicher Denker*innen und Künstler*innen entkommen können, ohne zu sehen, wie auch diese Kritik einem Denken und einer Logik folgt, die nichts anderes als eurozentrisch ist. Die anderen propagieren ein business as usual, indem sie jede Kritik am Status quo ignorieren oder die Kritiker*innen an einer eurozentrischen Bildung diffamieren, disqualifizieren und/oder öffentlich lächerlich machen. Letztere Strategie ist besonders beliebt bei etablierten Wissenschaftler*innen und Kunstrepräsentant*innen, die um die Reputation ihrer Schriften und Arbeiten fürchten. So sind die aktuellen Debatten um die Wissenschaftlichkeit von Rassismus Kritik, der Postkolonialen Theorie und den Gender und Queer Studies zum Teil sehr gewaltvoll. Da ist die Rede von Postkolonialer Theorie als terroristisch [1], der Rassismuskritik als ideologisch (siehe Castro Varela/Mecheril 2016), während Wissenschaftler*innen der Queer und Trans-Studies nicht nur von Mitgliedern der politischen Rechten bitter bekämpft werden, als würden ihr bloßes Dasein das Ende der Zivilisation einläuten.

Den double bind lernen, so wie es Spivak vorschlägt, eröffnet dagegen durchaus neue Denkräume für das Feld der (kulturellen) Bildung [2]. Wie Sarah Kofman in ihrem Buch „Erstickte Worte“ (2005) darlegt, in dem sie über die Ermordung des Vaters in Auschwitz schreibt, müssen wir nach Wegen suchen, auch dann zu sprechen, wenn sich ein geradezu unheimlicher double bind unserer ermächtigt. So scheint es Kofman als eine Pflicht über den Tod des Vaters zu sprechen, obschon sie sich einer fast körperlichen Unmöglichkeit zu sprechen gegenübersieht, ein erstickendes Gefühl.

Double Bind und die Fähigkeit zum erweiterten Denken

„Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, daß man mit den Unberechenbaren rechnet.“
(Derrida 1991, S. 34)

In der Einleitung zu ihrem Buch „The Aesthetic Education in the Era of Globalization“ (2012) erläutert Spivak, warum der double bind nach Bateson eine postkoloniale Situation verstehen hilft. Spivak bezeichnet ihn als „double bind der Universalisierbarkeit des Singulären“ und stellt ihn als „Zentrum der Demokratie“ dar. Universell gültige Theorien und etwa normative Rechte sind für die Demokratie wichtig, doch das Singuläre lässt sich nicht universalisieren. Dem double bind kann nicht ausgewichen werden. Der postkolonialen Kritikerin zufolge stellt eine ästhetische Bildung jedoch eine gute epistemologische Vorbereitung dar, um diesen double bind zu verstehen und darauf adäquat zu antworten. Dafür müssen die Lehrenden der Ästhetik das Wissen der Aufklärung in all seiner Widersprüchlichkeit transparent machen. (Ebd., S. 4)

(Kulturelle) Bildung kann nicht abgekoppelt werden von der globalen politischen Situation – darauf hat schon Edward Said in seinem Band „Kultur und Imperialismus“ (1993) hingewiesen. „Kultur“ ist ein schillernder und hochproblematischer Begriff – auch weil er von konservativen Gruppen instrumentalisiert wird, um etwa eine restriktive Migrationspolitik zu legitimieren. Und auch weil „Kultur“ – und was darunter verstanden wird – vielen Menschen immer unübersichtlicher erscheint, fühlen sich etliche Menschen davon überfordert. Dennoch ist es eine demokratische Notwendigkeit als Bürger*in nicht nur eines Landes, sondern auch des Globus, eine dezidiert politische Position einzunehmen. Die Demokratie, die Jacques Derrida zufolge, immer „suizidär“ ist, bedarf der politisch denkenden Bürger*innen, um diese vor der eigenen Vernichtung zu retten. Nur wer gelernt hat, politisch zu denken, wird eine politische Position einnehmen können bzw. eine Meinung haben. Derrida führt aus: „wenn es für sie [die Demokratie, MCV] eine Zukunft gibt, dann nur unter der Bedingung, das Leben und die Lebenskraft anders zu denken.“ (Derrida 2003, S. 55). Dieses „anders Denken“ ist das, was Hannah Arendt als „erweiterte Denkungsart“ bezeichnet. Spivak zufolge ist sie notwendig, um ethische Reflexe auszubilden, die dann wirksam werden, wenn die Demokratie in Gefahr ist (vgl. Castro Varela 2014). „Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden.“ (Arendt 2013, S. 61)

Eine (kulturelle) Bildung, die Menschen dabei behilflich sein will, eine eigene Meinung auszubilden – und dies scheint mir in gegenwärtigen Zeiten besonders angeraten – sollte nicht versuchen, Komplexität zu reduzieren oder gar das Konkrete gegenüber dem Abstrakten zu favorisieren, sondern den double bind sichtbar zu machen, der Kunst und kulturelle Bildung selbst durchzieht. Im Zentrum der kulturellen Hegemonie (in den Museen, den staatlich geförderten Kulturinstitutionen etc.) und gleichzeitig eine kritische Position behauptend, kann eine Metakommunikation über diese ambivalente Position nicht nur in die Lage versetzen, den double bind zu ertragen, sondern auch ein Denken entfalten helfen, das sich nicht der politischen Lüge ergibt.

Kontrapunktische Geschichten

Fritjof Capra folgend war Batesons „zentrale Botschaft […], dass Beziehungen die Essenz der lebendigen Welt sind, und dass wir eine Sprache der Beziehungen brauchen, um sie zu verstehen und zu beschreiben.“ Hierfür schlägt Bateson vor, Geschichten zu erzählen, denn diese seien „der königliche Weg zum Studium von Beziehungen." [3] Ich schlage deswegen aus einer postkolonialen Perspektive heraus vor, mit kontrapunktischen Erzählpraxen zu experimentieren. Dafür werden Räume benötigt, in denen Geschichte nicht simplifizierend und reduzierend, sondern in all ihrer Komplexität und Pluralität erzählt wird. Wie entkommen wir aber jener süßen Verführung, es in einfachen Worten zu sagen? Wenn die politische Rechte den Wunsch nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen befriedigt, muss die Praxis des Kontrapunktischen der Komplexität wieder den Raum gewähren, der ihr gebührt. Es ist dies ein ethisches Anliegen, das ein geduldiges Verlernen der dominanten Denkgewohnheiten und Praxen des Zuhörens und Sprechens durchbrechen muss. Und es ist eine der Hoffnungen von Kunst, dass diese den double bind erträgt, transparent und besprechbar macht.

Literatur

Arendt, Hannah (2013): Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München/Zürich: Piper.

Bateson, Gregory (2000/1972): Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology. Chicago, Illinois: University of Chicago Press.

Castro Varela, María do Mar (2014): „Uncanny Entanglements: Holocaust, Colonialism and Enlightenment“, in: Nikita Dhawan (Hrsg.): Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World. Opladen: Barbara Budrich, S. 115-138.

Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der ‚mythische Grund der Autorität‘. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Heller, Ágnes (2000): The Three Logics of Modernity and the Double Bind of the Modern Imagination. (Public Lecture Series). Budapest: Collegium Budapest.

Kofman, Sarah (2005): Erstickte Worte. Wien: Edition Passagen.

Said, Edward (1993): Culture and Imperialism. New York: Vintage Books.

Santos, Boaventura de Sousa (2018). Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens. Münster: Unrast.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge, Massachusetts/London: Harvard University Press.

[1] So bezeichnete ein weißer deutscher Professor noch im Jahre 2018 die Postkoloniale Theorie als „terroristische Wissenschaft“, in Erwiderung auf eine junge Nachwuchswissenschaftlerin, die vorschlug diese für die Analysen ihrer Dissertation als Rahmung zu verwenden.

[2] Zurzeit arbeiten Leila Haghighat und ich an einem Sammelband mit dem Titel „Double Bind postkolonial. Kritische Perspektiven auf Kunst und kulturelle Bildung“, der eben genau diese Fragestellung beleuchten wird. Er erscheint im Sommer 2020 im transcript Verlag.

[3] Vgl. Fritjof Capras: Homage to George Bateson auf der Website zum Film „An Ecology of Mind“: http://www.anecologyofmind.com/gregorybateson.html

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