Deutschland auf zwölf Bühnen
11.11.2019
In Stuttgart werden beim fünftägigen Festival „Made in Germany“ aus der ganzen Bundesrepublik Theaterstücke gezeigt, die Deutschland als Einwanderungsland thematisieren. Das Besondere: Die Produktionen wurden nicht etwa von Intendant*innen ausgewählt, sondern von einer mehrköpfigen Bürger*innen-Jury.
Von: Berkan Cakir
Nach mehr als einem Jahr, insgesamt rund 150 gesichteten Theaterstücken und zig Diskussionsrunden, sind am Ende nur noch die besten übrig: Zwölf Produktionen aus ganz Deutschland stehen auf der Liste für das diesjährige Theaterfestival „Made in Germany“, das zum sechsten Mal in den Theatern der baden-württembergischen Landeshauptstadt stattfindet.
Zwölf Theaterbühnen zeigen während des interkulturellen Festivals vom 13. bis zum 17. November Stücke mit Titeln wie „Occident Express“, „Jung, giftig und schwarz“ und „Allah liebt man(n)“. Allen Produktionen gemeinsam ist, dass sie die Bundesrepublik als Einwanderungsland zeigen – und genau das ist das Hauptanliegen der Festivalleiterin, Boglárka Pap: „Nur zu wissen, dass es so viele unterschiedliche Kulturen in Deutschland gibt, reicht ja nicht aus. Man muss das auch sehen und sich darauf einlassen können. Das Festival schafft dafür die Sichtbarkeit.“
Die Themen an den fünf Festivaltagen: Afrodeutsche, die täglich Rassismus erleiden, ein türkisches Mädchen, das dem typischen Rollenklischee ihrer Kultur zu entfliehen versucht, Liebe zwischen zwei muslimischen Männern und Geflüchtete auf Suche nach einer neuen, friedlichen Heimat. Das besondere Merkmal des Festivals ist, dass diese Stücke nicht etwa von den Intendant*innen der einzelnen Theater ausgesucht wurden, sondern von Bürger*innen aus der Region, die ganz anderen Berufen nachgehen. Hebammen, Verkäuferinnen, Büroangestellte, Projektmanager*innen – jedes zweite Jahr, in dem „Made in Germany“ stattfindet, schließen sich neun ausgewählte Personen zu einer Jury zusammen und entscheiden darüber, welche Produktionen beim Festival auf die Bühnen kommen.
Doch ganz unabhängig von den Theatern läuft ihre Arbeit nicht. Die Juror*innen werden nämlich als Pat*innen einem Theater zugewiesen. „Ihre Aufgabe ist es dann, die Seele der Spielstätte zu erspüren und dafür zu sorgen, dass das Stück zu den Häusern passt“, so Boglárka Pap. Beispielsweise ist das Alte Schauspielhaus eher klassisch-sinnlich orientiert, das Theater Rampe hingegen postmodern. Die Entscheidungsmacht liegt letztlich aber allein bei der Bürger*innen-Jury. „Wenn die Juroren das Stück einem Theater geben, können die Intendanten nicht mehr daran rütteln – es sei denn, die technischen Möglichkeiten vor Ort, wie eine zu kleine Bühne, erlauben eine Umsetzung nicht“, sagt Pap.
Dass das anfangs mit viel Skepsis bei den Intendant*innen aufgenommen wurde, liegt auf der Hand. „Wir mussten natürlich erst Vertrauensarbeit leisten“, so Pap. Denn ursprünglich zogen auch bei „Made in Germany“ die Intendant*innen die Fäden. Damals, bei der ersten Auflage 2006, hieß das Festival aber noch „Heimspiel“. Schon da hatte das Stuttgarter Forum der Kulturen, der Dachverband der Migrant*innenkulturvereine, die Idee, Stücke in die Theater zu bringen, die interkulturelle Erfahrungen widerspiegeln. 2011 wurde das Projekt mit dem Titel „Made in Germany“ wiederholt. „Das Publikum nahm es unterschiedlich auf“, erinnert sich Pap, „Es wurde schließlich darüber diskutiert, ob denn das, was die Intendanten gut finden, auch die Bürger gut finden.“
Das darauf folgende „Made in Germany“ in 2013 wurde das erste Mal von einer Bürger*innen-Jury kuratiert – und prompt zum Erfolg. „Die Stücke, die gewählt wurden, hatten ganz andere Thematiken und eine andere Ästhetik, die auch bei den Intendanten gut ankamen“, sagt Pap. Ein anderer Aspekt ist, dass die meisten Juror*innen selbst Migrationshintergründe haben, oder zumindest in ihrer Kindheit in einem Umfeld aufgewachsen sind, das überwiegend migrantisch geprägt war.
Wie zum Beispiel Babette Luckert, die ursprünglich aus Berlin stammt, heute in Stuttgart in der Unternehmenskommunikation arbeitet und in diesem Jahr Jurorin des Festivals war. Die 36-Jährige kennt das multikulturelle Leben aus ihrer Kindheit, tat sich aber bei der Durchforstung der bundesweiten Theaterprogramme schwer, Stücke zu finden, die genau das repräsentierten. „Es gab kaum etwas dazu“, sagt Luckert. Viele Theaterhäuser führten meistens Klassiker auf, bei anderen würde Vielfalt immer als Problemfeld behandelt. „Es gab kein Stück, das Vielfalt in Deutschland als Normalität begreift. Ich finde das erschreckend“, sagt sie.
Letztlich habe sie ‚Ellbogen‘, das auf dem Roman von Fatma Aydemir basiert und Luckert live im Jungen Schauspielhaus in Hamburg gesehen hat, vollends überzeugt: „Ich dachte: Genau so war es für viele Mädchen aus meiner Nachbarschaft. Ich wollte das Stück unbedingt im Programm und habe auch dafür gekämpft.“
Auch das ist ein Aspekt, den die Bürger*innen-Jury auszeichnet: Über die mehr als hundert vorgeschlagenen Stücke, die die Mitglieder entweder live gesichtet oder auf DVD angeschaut haben, wurde einmal im Monat lang und ausgiebig debattiert. „Und am Ende wurde alles partizipatorisch eingestampft“, sagt Daniel Michalos, der in diesem Jahr ebenfalls in der Jury saß. Durch diesen Prozess sehen die Stuttgarter*innen bei „Made in Germany“ nun einige Bühnen in der Landeshauptstadt konträr zu dem herkömmlichen Programm besetzt. „Stücke wie ‚Ellbogen‘ oder ‚Allah liebt man(n)‘ würden hier sonst nicht gezeigt werden“, sagt der 42-jährige, „Außerdem stammen nur drei Stücke aus größeren, instutionalisierten Theatern. Der Rest wird von kleineren Gruppen, Kollektiven und auch Laien aufgeführt, wie das Tanztheater ‚Dörfer der Hoffnung‘ aus Bonn.“
Der erhoffte Effekt: Menschen, die nicht oder weniger Theateraffin sind, sollen sich repräsentiert fühlen und sagen: „Da ist mal etwas für mich dabei.“ Freweini Tzeggai zum Beispiel. Die 35-jährige Bürokauffrau ist in diesem Jahr selbst in der Bürger*innen-Jury aktiv gewesen. „Davor hatte ich aber nichts mit Theater am Hut, habe auch ganz selten mal ein Stück besucht, weil ich nichts fand, das mich ansprach“, sagt sie. Bei „Made in Germany“ hingegen würden sich alle Theater neuen Themenbereichen öffnen, die auch ihre Lebenswelt betreffen.
Für Festivalleiterin Boglárka Pap bezieht diese Öffnung nicht nur die Menschen ein, die sich ansonsten auf den Bühnen unterrepräsentiert fühlen. Auch in einer Zeit, in der populistische Parteien wie die AfD erstarken, erkennt sie das als eine wichtige Chance. Da einen Gegenimpuls zu geben und mit den migrantischen Theaterstücken von „Made in Germany“, die in Deutschland die Vielfalt sehen, ein Gleichgewicht zu schaffen, sei ihr wichtig.
In Kooperation mit: Junges Ensemble Stuttgart (JES), Kulturwerk, Schauspielbühnen in Stuttgart, Schauspiel Stuttgart, Studio Theater Stuttgart, Theater am Faden, Theater Atelier, Theater La Lune, Theater Rampe, Theater tri-bühne, Theaterhaus Stuttgart, Wilhelma Theater