Ist ein anderes Europa möglich?
19.03.2020
Abschottung an den Außengrenzen, Rechtspopulismus in den Parlamenten: Europa steckt in der Krise. Können gemeinsame europäische Narrative, neue Ideen von Offenheit, Austausch und kultureller Diversität einen Beitrag zur Überwindung der Krise leisten? Ein Essay von Gernot Wolfram.
Von: Gernot Wolfram
Die aktuelle Krise an den südöstlichen Grenzen Europas erzeugt Empörung, Zorn und Wut. „Shame on you, Europe!“ ist in digitalen Foren zu lesen. Trauer und Entsetzen machen sich breit über einen Kontinent, der sich abzuriegeln scheint. Die Frage ist dabei nur: welches Europa wird hier angeklagt? Die Politik der Europäischen Union? Die Gleichgültigkeit der Bevölkerung in der westlichen Sphäre des Kontinents gegenüber der Notsituation von Menschen auf der Flucht? Die historischen Dimensionen und Implikationen? Hier scheint es geboten zu sein, zu differenzieren und genauer hinzusehen.
Obgleich es seit Jahrzehnten in Deutschland und anderen Ländern eine unüberschaubar große Zahl an künstlerischen Austauschprojekten, Förderungen und Kooperationen gibt, die sich mit dem Thema Europa und europäischer Entgrenzung wie Vernetzung beschäftigen, sind gleichzeitig kaum prominente Narrative entstanden, welche den Namen des Kontinents mit Bedeutung, Sinn und Kraft erfüllen würden. Das Fehlen solcher Narrative macht sich in Krisensituationen besonders deutlich bemerkbar. Gute Narrative sind nicht nur Erzählungen, sondern stehen für etwas, bilden Referenzpunkte und Haltungen ab, können vielleicht sogar etwas wie Orientierung bieten. Im Falle der europäischen Idee müssten sie aktuell so etwas wie eine elektrisierende Wirkung auf die Bewohner*innen des Kontinents haben: Es geht hier um unser Selbstverständnis, zumindest um eine Diskussion, die nicht nur national ausgetragen werden sollte.
Europa als Herzensangelegenheit
Trotz der Fördermillionen, die seitens der Europäischen Union, aber auch vieler Stiftungen und Kulturinstitute im letzten Jahrzehnt in unzählige Programme geflossen sind, zeigt sich indes leider mit erschreckender Tendenz, dass nationale und populistische Kulturvorstellungen weiter auf dem Vormarsch sind. Der Brexit ist hierbei möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Europa als Herzensangelegenheit, als kulturelle Aushandlungsfläche für Freiheit, Diversität und einen funktionierenden interkontinentalen Austausch wird immer mehr zu einer rhetorischen Figur statt zu gelebter Realität.
Die Kunstszenen haben hier einen schweren Stand, da ihre Reichweiten begrenzt sind und verständlicherweise ihre Aufgabe nicht darin bestehen kann, normative Bekenntnisse zu einem Kontinent zu unterstützen. Gleichwohl ist auffällig, dass es wenige prominente Narrative zu einem kulturellen Europa gibt, welche sich als Antwort auf die bestehenden Probleme durchsetzen könnten. Projekte gibt es in Hülle und Fülle, doch Erzählungen, die sich ausbreiten und in der jungen Generation umfassend präsent wären, sind eher die Ausnahme.
Es wäre ein Leichtes angesichts der digitalen Vernetzungsmöglichkeiten, dass Theater, Museen, Festivals und andere kulturelle Initiativen auf dem Kontinent sich zusammenschließen, um gegen die Verletzung grundsätzlicher humanistischer Werte aufzustehen. In der Realität gelingt es jedoch nicht mal in Deutschland, eine nennenswerte Unterstützung für die künstlerischen Proteste und Widerstandsaktionen gegen kulturrepressive Maßnahmen im Nachbarland Polen zu organisieren.
Transkultur statt Interkultur
Europäisch zu handeln, hieße ganz konkret übersetzt: neue Reichweiten erzeugen, diverse Widerstands- und Denkformen miteinander zu verbinden und dafür eine Öffentlichkeit zu schaffen, die Einfluss nehmen kann. Plattformen wie etwa die europäische Presseschau „eurotopics“ der Bundeszentrale für politische Bildung zeigen täglich an, welche differenzierten Argumente für ein gemeinsames Handeln zusammengetragen werden können, wenn sich nationale Perspektiven entgrenzen.
Dazu kommt, dass Europa immer noch oft interkulturell statt transkulturell gedacht wird. Das heißt, es besteht in der kulturellen Praxis häufig eine starke Dominanz bezogen auf einzelne Länderperspektiven. Was wären aber künstlerische wie transkulturelle Ansätze, europäische Perspektiven zu stärken, die den Namen verdienen? Darauf gibt es keine Rezeptantworten, wohl aber Möglichkeiten einer sensibleren Annäherung. Europäisch meint hier zunächst den Blick auf ein fluides Kulturverständnis zu richten.
Europa ist – entgegen dem jetzigen Anschein – nicht zuvorderst die Geschichte von Nationalstaaten und nationalen Erzählungen, sondern seit der Antike ein Gelände von Migrationsbewegungen, Austausch und Transferströmungen aus vielen Teilen der Erde. Es ist freilich auch eine Geschichte von Eroberungen, Unterdrückung und Kolonisation. Diese Gleichzeitigkeit von Schrecken und Humanität anzuerkennen, wäre ein Ausgangspunkt. Zudem ist es ein Schmelztiegel von Sprachen, Ideen und politischen Konstellationen. In der künstlerischen Praxis zeigt sich jedoch, dass es gerade in der jungen Generation quer über den Kontinent viele gemeinsame Interessen gibt, die sich eben nicht auf Abgrenzung und Abschottung konzentrieren, sondern kulturelle Diversität als Wert anerkennen und verteidigen wollen. Herkunft ist keine Zukunftskategorie.
Medienbildung als Schlüsselkompetenz
Die Schwierigkeit besteht aber schon in der Tatsache, dass etwa Schüler*innen in Deutschland nur marginal im Schulunterricht mit europäischen, geschweige denn globalen Positionen in Berührung kommen. Nach wie vor sind Schullesebücher stark von nationalen Perspektiven geprägt. Das setzt sich fort im Medienkonsum, wenn man auf klassische Medien wie das Fernsehen schaut. Sieht man von Ausnahmen bei 3Sat und Arte ab, haben die meisten in Deutschland im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigten Spielfilme immer noch einen deutschen, US-amerikanisch oder westeuropäischen Hintergrund. Zaghaft positive Veränderungen sind indes bei Netflix, AmazonPrime oder anderen Digitalanbieten zu beobachten, die verstärkt Produktionen aus bislang marginalisierten Ländern fördern und anbieten. Somit kommen andere Stimmen, Bilder, Positionen ins Spiel. Allein das griechische Kino hat etwa in den letzten Jahren trotz der Krise bemerkenswerte Produktionen hervorgebracht, welche etwa die Krise an den Außengrenzen des Kontinents reflektieren. Unmittelbar, kritisch, unter Bezugnahme auf europäische wie außereuropäische Stimmen.
Kurz gesagt: Medienbildung und Medienvernetzung sind die Schlüsselbereiche, um die Idee eines humanistisch geprägten Europas, das sich zu einer interkontinentalen, kulturellen Diversität bekennt, stark zu machen. Was Menschen medial konsumieren, darüber sprechen sie, das geht sie an. Niklas Luhmanns Beschreibung einer durch Medien konstruierten Welt ist heute gültiger denn je. Umso erschreckender ist die Tatsache, dass soziale Medien und das Internet zu Schauplätzen werden, an denen ein Europabild vermittelt wird, das sich oft rein propagandistischer Methoden bedient. Besonders rechtspopulistische Foren, die jahrelang Griechenland als das Geld der Europäer verprassender Schuldenstaat gebrandmarkt haben, missbrauchen das südliche Land nun als „Bollwerk Europas“ gegen den „Ansturm der Fremden“. Hier werden Meinungen gebildet und vor allem Emotionen geschürt. Freilich gibt es bereits gute Medienbildungsansätze, nur sind sie meist nicht sehr divers. Das heißt konkret, um beim Beispiel zu bleiben, die Wahrnehmung griechischer, syrischer oder bulgarischer Blogger*innen, Journalist*innen steht im Moment nicht zentral im Fokus. Es dominieren hierzulande deutsche Medien den Diskurs. In den Internetforen zirkulieren Fake News, Fake Pictures und Meinungen, die wenig Rückbindung an die lokalen Perspektiven der Betroffenen haben.
Es mangelt an der Implementierung
Kulturelle Diversität ist ein Schlagwort, dass erst dann mit Leben gefüllt wird, wenn es Erfahrungen von Nähe, Empathie und gemeinsamen Handlungsoptionen enthält. Eine europäische orientierte Medienbildung wäre ein Weg, künstlerische Positionen zu entdecken, die genuin transkulturell sind, d.h., in denen die komplexen Erfahrungen von Migration, Identität und Entgrenzung sichtbar und erlebbar sind. Forschungs- und Vermittlungsansätze in diesem Bereich sind in großer Zahl vorhanden. Woran es mangelt, ist eine umfassende Implementierung.
Der zunehmende Erfolg populistischer Denkmuster zeigt an, dass eine punktuelle, auf kleine Kreise beschränkte Diskussion zum Thema kulturelle Diversität nicht die Antwort sein kann. Starke, medial vermittelte europäische Narrative, die der politischen Realität eine Idee von Offenheit, kultureller Vielfalt und interkontinental-kooperativer Kompetenz entgegenstellen, könnten ein Beitrag zur Überwindung der Krise Europas sein.