Der Weg zur neuen „Normalität“
26.05.2020
Eine nachhaltige Diversitätsentwicklung kann nur gelingen, wenn drei zentrale Akteure an einem Strang ziehen: Kulturpolitik, Kulturverwaltung und die geförderten Kultureinrichtungen – so argumentieren Düzgün Polat, Ivana Pilic und Timo Köster in ihrem Konzept für einen diversen und diskriminierungskritischen Kulturbereich in Deutschland.
Von: Düzgün Polat
Seit Anfang des Jahres ist die Menschheit mit der Corona-Pandemie konfrontiert und jede*r ist, abhängig von der eigenen Lebensrealität, mehr oder weniger davon betroffen. In dieser Pandemie offenbaren sich Ungleichheiten, die sich nicht zuletzt in der Umsetzung von beschlossenen Maßnahmen zeigen, wie zum Beispiel dem Aufruf „Wir bleiben zuhause“. Menschen in prekären Lebenssituationen stellt er vor schier unlösbare Herausforderungen. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind mit dieser, in Teilen existenziellen Situation, konfrontiert: Menschen bangen um ihre Jobs und kämpfen in der Kurzarbeit mit massiven Einschränkungen, Soloselbstständige und Kulturschaffende stehen vor dem Nichts.
Diese Situation ist bekannt, denn nicht erst seit der Corona-Pandemie sind solche Realitäten für viele Menschen in Deutschland existent. Daher ist auch die Frage, wann wir wieder zur „Normalität“ zurückkehren können, eine, die unter anderem von der Schriftstellerin Arundhati Roy energisch zurückgewiesen wird. Wir brauchen nach Roy keine Rückkehr zu einer Normalität, sondern einen Entwurf, wie die sich nun offenbarenden und von vielen schon seit Jahren gebetsmühlenartig geäußerten gesellschaftlichen Ungleichheiten überwunden werden können.
Vom Status Quo zum neuen Ansatz
Seit Jahren oder gar Jahrzehnten beobachten wir, dass es viele vereinzelte Veranstaltungen, Maßnahmen oder Projekte gibt, um Kulturinstitutionen für breite Bevölkerungsgruppen relevanter und zugänglicher zu gestalten. Sie allesamt, das soll ausdrücklich betont werden, sind ungemein wichtig. Was allerdings fehlt, sind nachhaltige strukturelle Prozesse, die Kulturpolitik, Kulturverwaltung und öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen als wesentliche Akteur*innen einschließen und sie in einem gemeinsamen Wirken und Agieren zusammenführen.
Wir sind überzeugt, dass es für Veränderungsprozesse nicht nur Bottum-up-Strategien bedarf, die durch Einzelpersonen, Leuchtturmprojekte und minorisierte Gruppen erfolgen. Es braucht auch Top-down-Strategien, bei denen im Besonderen der Kulturpolitik und Kultverwaltung eine wichtige Rolle zukommen.
Diversitätsentwicklungen gehen unserer Ansicht nach immer mit diversitätskritischen Ansätzen und Antidiskriminierung einher. Temporäre Maßnahmen, die Vielfalt fördern, reichen nicht aus, um strukturelle Benachteiligungen zu überwinden.
Diversitätsentwicklungen brauchen Know-how, um eine nachhaltige Öffnung von Kulturinstitutionen zu ermöglichen – hierzu ist ein langer Atem notwendig. Verantwortliche müssen außerdem die Kompetenz besitzen, mit Widerständen umzugehen und die Fähigkeit oder die Erfahrung haben, Veränderungsenergien von Systemen und ihrer Entscheidungsträger*innen einschätzen zu können.
Wir sind überzeugt, dass Strategien notwendig sind, die von Kulturpolitik und Kulturverwaltung in einem ressortübergreifenden „Whole-of-Government-Ansatz“ entwickelt und in einem längerfristigen Prozess umgesetzt und gesteuert werden müssen.
Dem Ansatz liegt ein ressourcenorientiertes Verständnis zu Grunde: Es geht letztlich darum, Teilhabe und Zugangsmöglichkeiten für mehr Menschen zu ermöglichen. Er zielt darauf ab, kulturpolitisches und kulturpraktisches Verwaltungshandeln sowie gesellschaftliches Engagement auf unterschiedlichen Ebenen inhaltlich und administrativ zu koordinieren und abzustimmen – damit so ein Konzept entsteht, das Vielstimmigkeit ermöglicht und relevante Akteur*innen miteinbezieht.
Was beinhalten nun Diversitätsentwicklungen, die von Kulturpolitik konzipiert und gesteuert werden? Im Wesentlichen gehören folgende Bausteine dazu:
- Qualitative und quantitative Bedarfsanalysen, Datenerhebungen zur Repräsentation in der Belegschaft der Kultureinrichtungen und auch von Zielgruppen. (Fragen Sie sich und fragen Sie vor allem die Leiter*innen von Kultureinrichtungen: Wer ist eigentlich das Publikum?)
- Diversitätsorientierte und diskriminierungskritische Förderpolitiken und Förderrichtlinien
- Diversifizierung von Gremien und Jurys
- Personalpolitiken und Stellenausschreibungen
- Bereitstellung von Plattformen für Kultureinrichtungen zur Reflexion der Veränderungsprozesse
Was dies im Wesentlichen für Kulturpolitik, Kulturverwaltung und die Kultureinrichtungen bedeutet, soll im Folgenden skizziert werden, um die „Möglichkeitsräume“ für ganzheitlich konzipierte Diversitätsentwicklungen aufzuzeigen.
Kulturpolitik
Die Kulturpolitik benennt den kulturpolitischen Handlungsbedarf. Sie beauftragt die Kulturverwaltung und unter Umständen externe Institutionen mit einem Prozess der Diversitätsentwicklung. Zusammen mit der Verwaltungsleitung steuert sie den Prozess politisch-normativ und strategisch – je nach Vorhaben auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene. Sie entwickelt zusammen mit der Verwaltung Formen der Steuerung und des Berichtswesens. Sie gibt die Erstellung eines Diversitätskonzeptes in Auftrag und entwickelt darauf basierend zusammen mit der Kulturverwaltung ein Diversitäts-Monitoring.
Kulturverwaltung
Die Verwaltung übernimmt die Koordination des Prozesses: Sie setzt das Diversitätskonzept unter Beteiligung von externen Expert*innen um, ist für das Monitoring verantwortlich, passt bestehende Steuerungsinstrumente an oder entwickelt diese neu. Dazu gehört außerdem die Aufgabe, Diversitätsentwicklungen im Querschnitt zu denken und anzuwenden; die Umsetzung von Diversitätsentwicklungen bezüglich der Besetzung von Jurys und Gremien, Stellenausschreibungen, Förderpolitiken und -programmen mitzudenken sowie die operative Steuerung zu übernehmen.
Kultureinrichtungen
Diversitätsorientierte und diskriminierungskritische Prozesse zur Organisationsentwicklung in Kultureinrichtungen benötigen ein Leitbild, das die Zieldefinition für die Veränderung der Institution festschreibt. Für eine ernstgemeinte Öffnung braucht es den Willen der Leitungsebene, die eigene Institution an die gesellschaftliche Realität heranzuführen und somit aus ihrer elitären Isolation herauszuholen. Damit wird der Blick auf den Lernprozess der Institutionen gerichtet.
Ein klares Bekenntnis zum Öffnungsprozess auf den Ebenen Personal, Programm und Audience Development ist Grundvoraussetzung. Für die Öffnung der Institutionen gibt es nicht einen einzigen richtigen Weg. Vielmehr braucht es umfassend auf allen internen Institutionsebenen ein Bewusstsein für die Vorteile und Herausforderungen, um ein Umdenken zu ermöglichen. Die Langfristigkeit des Prozesses und eine notwendige Beharrlichkeit sind dabei vonnöten, da die gewünschten Veränderungen unterschiedlich schnell greifen.
In Bezug auf die Personalpolitik ist Diversität der Schlüssel zu jeglicher Veränderung. Nur wenn eine Vielfalt an Sprachen und sozio-kulturellen Erfahrungen innerhalb der Mitarbeiter*innen, und zwar auf allen Entscheidungsebenen (!), vorhanden ist, kann ein Öffnungsprozess ernsthaft entwickelt werden. Aufgrund der homogenen Zusammensetzung des Personals in den meisten Kulturinstitutionen schließt unserer Ansicht nach ein guter Prozess zur Organisationsentwicklung auch Formate und Methoden mit ein, die marginalisierte Perspektiven zu Wort kommen lassen.
Die Förderung transkultureller Kompetenzen im vorhandenen Personal ist ein weiterer Anknüpfungspunkt. Eine grundsätzliche Sensibilisierung der wichtigsten Akteur*innen zu individuellen Vorurteilen, Antirassismus, transkultureller Kommunikation sowie gezielte Fortbildungen hinsichtlich spezieller Zielgruppen sind erstrebenswert. Reflexionsebenen für die Umsetzungsschritte sollten auch strukturell verankert werden, um Erfolge und Misserfolge auswerten zu können. Die öffentlich geförderten Institutionen berichten in diesem ganzheitlichen Prozess an die Verwaltung und Kulturpolitik zum Stand der Diversitätsentwicklungen.
Hierbei ist zu erwähnen, dass ein Teil des Diversitäts-Monitorings Erhebungen zu Belegschaft und Zielgruppen sind. Auch Fragen zur Zusammensetzung des Programms und den ästhetischen Ausdrucksweisen finden hier Platz. Es gilt also die Frage zu beantworten, in welcher Weise das bisherige Programmangebot Menschen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen inhaltlich anspricht.
Wesentlich ist schließlich ein Hinausblicken über den eigenen Horizont, durch das Agieren außerhalb des Gebäudes und das Erproben von Produktionen in Zusammenarbeit mit lokalen Kulturinitiativen und Botschafter*innen der jeweiligen Communitys vor Ort. Ziel ist die Förderung der Zusammenarbeit und der Ausbau von Plattformen für die Kooperation zwischen großen, kleinen und lokalen Kulturinitiativen, Botschafter*innen, Keyplayer*innen und Akteur*innen der jeweiligen Communitys.
Resümee
Prozesse der Diversitätsentwicklungen erfordern je nach Umfang spezifische Steuerungsformen (operativ, strategisch und politisch-normativ) und dazugehörige Formate. Diese sind vom Umfang des Prozesses an sich abhängig. Was es mindestens braucht, sind bestehende Steuerungsinstrumente wie beispielsweise Quartalsgespräche zwischen Fördergeber*innen und Förderempfänger*innen, die für die Steuerung nutzbar gemacht werden sowie Fördervorhaben, die an diversitätsorientierte Kriterien geknüpft sind.
Für ein Zusammenspiel der Akteur*innen muss ein Prozess aufgesetzt werden, der die Verbindlichkeiten, das Berichtwesen und dessen Formate sowie das Monitoring regelt und darüber hinaus zeitliche Vorgaben definiert und Zielsetzungen formuliert: Wo wollen wir in fünf oder in zehn Jahren stehen?
Es braucht also den politischen Willen, einen politischen Auftrag und damit einhergehend: Gestaltungswillen für die Umsetzung. Einen Gestaltungswillen, der nicht nach einem Jahr erloschen ist, sondern dann erst seine ersten Wirkungen entfalten kann und darf. Dass dazu ein ganzes Instrumentarium an Maßnahmen und Formaten zur Verfügung steht, steht mittlerweile außer Frage.Machen wir uns also auf den Weg?
Info:
Das in diesem Artikel beschriebene Konzept für einen diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen Kulturbereich in Deutschland wurde von Ivana Pilic, Timo Köster und Düzgün Polat entwickelt. Dieser Ansatz speist sich aus den eigenen Erfahrungen und ist Resultat der theoretischen sowie praktischen Auseinandersetzung mit der Fragestellung, wie ein offener Kulturbereich Realität werden kann. Über eine Publikation, die den Ansatz tiefgründiger ausformuliert und eventuell als „Arbeitshandbuch“ für die Verfechter*innen einer diversitätsorientierten Entwicklung fungieren kann, wird – jedoch noch unkonkret - nachgedacht.