Das Ende der Partizipation? Kulturelle Teilhabe in (Post-)Corona-Zeiten

11.06.2020

Schriftzug "Open Now" mit Klebeband vor einer Eingangstür
Kulturelle Orte radikal neu denken | Foto: Kadir Celep/Unsplash

Die Corona-Pandemie zeigt: Der Kulturbetrieb als statischer Ort hat ausgedient. Eine Strategie der Entgrenzung sollte allerdings nicht nur in den digitalen, sondern auch in den öffentlichen Raum führen, um krisenfeste Formen der Partizipation zu ermöglichen.

Von: Gernot Wolfram

Während sich in Deutschland langsam ein Ende der unmittelbaren Krise abzeichnet, Museen und Kulturstätten ihre Tore öffnen, werden in Südkorea aufgrund steigender Neuinfektionen die ersten Museen und öffentlichen Kulturbetriebe bereits wieder geschlossen. Ein Warnsignal? Müssen wir auch in Deutschland damit rechnen, dass in Zukunft ein On-Off-Modus der Normalzustand für Kulturbetriebe sein wird? Abgesehen von den dramatischen ökonomischen Folgen, die jetzt schon eingetreten sind, wird auch eine Bedrohung für einen der zentralen Begriffe der Kulturarbeit in den letzten Jahren deutlich: der Ermöglichung von Teilhabe und Partizipation von Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.

Geschlossene Orte und reduzierte Körper

Geschlossene Orte sind, so banal es zunächst klingen mag, eben auch für die Begegnung von Menschen verschlossen. Digitale Ersatzräume sind keine ausreichende Antwort – da sie bei den Nutzer*innen technische Ausstattung, Kompetenz und Sprachmächtigkeit voraussetzen. Zudem fördern sie eine Form der Interaktion, welche den Körper und die Repräsentationen des jeweiligen Andersseins limitiert oder auf Bildschirmgröße reduziert.

Im Feld der Partizipationsermöglichung ist in den letzten Jahren viel erreicht worden. Museen und viele andere Kulturbetriebe haben sich in starkem Maße geöffnet und sich kritischen Fragen nach ihrem Rollenverständnis stellen müssen. Kritik an der Repräsentation von Erhabenheit, Distanz, kolonialer Vereinnahmung von kulturellen Artefakten haben in vielen Fällen dazu geführt, dass die Institutionen nahbarer wurden. Ob es darum ging, Menschen mit Fluchterfahrungen oder Migrationsgeschichte stärker zu involvieren oder verschiedenen Besucher*innengruppen neue und u.a. inklusive Interaktionsangebote zu machen, auffällig war, auch in den entsprechenden Forschungsarbeiten [1], dass eine stärkere politische Sensibilität zum Ausdruck kam.

Das Museum als Ort der Aushandlung von politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen begreifen, wie es die Museumswissenschaftlerin Sharon Jeanette Macdonald immer wieder betont, kann jedoch nur gelingen, wenn es ein vielstimmiger Aushandlungsort ist [2]. Wenn metaphorisch wie praktisch die „kulturellen Heiligtümer“ aus ihren Vitrinen entlassen werden und in neue Kontexte geraten. Wenn nicht die Führung durch eine Ausstellung, sondern die mitsprechende Erkundung der Besucher*innen im Mittelpunkt steht. Das gilt eben auch für die digitale Nutzung. Wie bereits gesagt: Forschung und Praxis haben hier große Schritte unternommen. Die Konferenzen, Bücher und Fachaufsätze zur Differenzierung von Teilhabe, kulturellem Erbe, Teilsein, Partizipation und die für politische Implikationen aufgeschlossene Dekonstruktionen von gängigen Terminologien sind mittlerweile äußerst umfangreich [3]. Daher stellt sich die Frage: was geschieht mit diesem Partizipationsverständnis in einer Situation, in der Abstand, Distanzhalten, Hygiene, Öffnen und Schließen der Tore plötzlich die zentralen Bezugspunkte sind?

Radikale Veränderung als Chance?

Eine Chance in dieser Situation ist möglicherweise über eine radikale Veränderung des Ortes selbst nachzudenken. Nicht nur, wie momentan stets betont im Kontext der Digitalisierung, sondern im Sinne einer neuen Öffnung in den öffentlichen Raum hinein. Dieser Prozess ist nicht erst mit der Corona-Krise in der Diskussion.

Vor allem im Kunstbetrieb ist die Skepsis gegenüber der Abhängigkeit von fixierten Orten schon lange präsent, wie es Stefan Lüddemann treffend zusammenfasst: „Dabei haben Kunst und Künstler ihre vermeintlich angestammten Orte längst verlassen. Christo installierte seine safrangelben Stege im italienischen Iseo-See, Olafur Eliasson in New York seine künstlichen Wasserfälle. James Turrell verwandelt mit dem Roden Crater, einem erloschenen Vulkan im amerikanischen Arizona, einen ganzen Berg in ein Lichtkunstwerk. Die Orte der Kunst liegen bisweilen weitab vom eigentlichen Kunstbetrieb. Gerade die Klassiker der Land Art haben das Verhältnis von Kunst und Ort völlig neu definiert - indem sie mit gewaltigen Kunstwerken Niemandsland überhaupt in einen Ort verwandelten.“ [4] Man könnte hinzufügen: diese Kunstwerke haben auch neue Begegnungs- und Kommunikationsräume geschaffen, außerhalb von Gebäuden und institutionellen Regeln.

Was sind „Schutzkonzepte“?

Partizipation, so ließe sich sagen, ist messbar am Grad der Kommunikationen, die sie auslöst. Je spontaner, unmittelbarer und direkter diese Kommunikationen ausfallen, so „überraschender“ sie sind, um an einen Gedanken von Dirk Baecker anzuschließen[5], desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Beteiligung von Menschen nicht lediglich ein kulturelles Planungsinstrument in Strategiepapieren von Kultureinrichtungen ist.

Im Moment ist viel die Rede von „Schutzkonzepten“ [6], von Maßnahmen, die zur Sicherheit der Besucher*innen getroffen werden. Das ist ein verantwortlicher und wichtiger Aufgabenbereich; dennoch erstaunt, wie ruhig es gleichzeitig um die Themen Partizipation, Nähe und Teilhabe geworden ist. Sind diese Kategorien durch die Pandemie in den Hintergrund getreten oder einfach nicht umsetzbar? Letzteres muss man wohl bejahen, wenn man den Fokus auf die Kultureinrichtungen als unmittelbare Orte lenkt. Für eine Strategie der Entgrenzung von Orten, und zwar nicht nur in digitaler Ausformung, gibt es schon viele Ideen. Etwa der Aufruf vieler Museen in der Corona-Krise an die Bevölkerung, wie etwa des Kölnischen Stadtmuseums, Artefakte aus der Zeit des Lockdowns zu sammeln und einzuschicken. Kommunikation zu erzeugen. Das Sammeln, Dokumentieren und Bewahren zu demokratisieren [7]. Wie etwa auch bei einem Projekt der Kunsthalle Wilhelmshaven. Zur Lockdown-Zeit wurden dort Exponate einer Ausstellung an Besucher*innen unter dem Titel „Komm nimm mich“ verliehen. Vielleicht ließe sich dieser Ansatz noch weiter ausbauen, indem Kulturbetriebe viel stärker zu Navigatoren werden als klassische „Anbieter“ zu sein.

Zukunft und Struktur

Das Zukunftsinstitut weist in einem Artikel darauf hin, dass die über 6000 Museen in Deutschland (und die 55.000 Museen weltweit) ein großes Zukunftspotential haben, wenn sie Kommunikation und Bildung in den Vordergrund stellen und nicht das Festhalten an starren Hauskonzepten, welche wenig flexibel sind.[8] So könnten etwa temporäre Ausstellungsflächen und vorübergehend genutzte öffentliche Räume – Stichwort Pop-Up-Spaces – eine Lösung zu sein, um auf Krisen wie die jetzige zu reagieren. Wenn Besucher*innen nicht in Innenräume gehen können, sind es möglicherweise Gärten, Parks, offene Zeltkonstruktionen und andere Außenbereiche, die zu Ersatzquartieren werden können. Das von Renzo Piano geplante Stavros Niarchos Cultural Center in Athen etwa, welches die Nationalbibliothek, die Nationaloper und zahlreiche Cafés beherbergt, ist so konstruiert, dass vor allem die große Parkanlage ringsum Platz für die Besucher*innen bietet. Auch das Gebäude selbst ist voller weitläufiger Außenflächen und Terrassen. Ähnliches lässt sich im Parque Cultural de Caribe im kolumbianischen Barranquilla beobachten, aber auch, in Ansätzen, im Jüdischen Museum in Berlin.

Ränder können Zentren sein

Die Außenbereiche, Vor- und Innenhöfe, die Umhegungen der Museen, also die Randzonen von Kulturbetrieben als Ausweichorte in Krisen? Das könnte durchaus an viele Partizipationsdiskurse anschließen, in denen ja das Ausgeschlossene ins Zentrum rückt. Wichtiger aber vielleicht wäre, dass der Ort flexibel gedacht wird. Dass die Kommunikation, das Gespräch, aber auch die Anwesenheit und Sichtbarkeit der Körper in ihrer wahren, also nicht digital reduzierten Gestalt gestärkt werden. Das bedeutet sicher in vielen Bereichen ein radikales Umdenken, einen Abschied auch von der Symbolkraft und städtischen Repräsentation vieler Kulturbetriebe. Doch vor die Wahl gestellt, immer wieder passiv und mit hohen personellen und strukturellen Verlusten auf Krisen zu reagieren, oder sich aktiv einer Veränderung zu stellen, die dann in einem weiteren Sinn wirklich ein „Schutzkonzept“ wäre, sollte das mit Augenmaß diskutiert werden.

Fußnoten:

[1] Vgl. exemplarisch Radonic, Ljiljana & Uhl, Heidemarie (Hg*in) (2020): Das umkämpfte Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung. transcript Verlag; Davis, Ann & Smeds, Kerstin (ed.) (2016): Visiting the Visitor. An Enquiry Into the Visitor Business in Museums. transcript Verlag; Greve, Anita (Hg.*in) (2015): Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Perspektiven. Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica Gesellschaft. Band 017/2015. Vandenhoeck&Ruprecht; Wonisch, Regina& Hübel, Thomas (Hg.) (2011): Museum und Migration. Konzepte.Kontexte.Kontroversen. transcript Verlag

[2] Vgl. exemplarisch Sharon J. Macdonald (2013): Memorylands. Heritage and Memory in Europe Today. Routledge

[3] Vgl. exemplarisch: Anja Piontek (2017): Museum und Partizipation, Theorie und Praxis kooperativer Ausstellungsprojekte und Beteiligungsangebote. transcript

[4] Stefan Lüddemann: So funktioniert moderne Kunst: Kunst und ihre Orte. Neue Osnabrücker Zeitung

[5] Vgl. Dirk Baecker (2009): Form und Formen der Kommunikation. Suhrkamp

[6] Vgl. exemplarisch: www.bundesregierung.de

[7] Deutsche Welle: Corona-Gedächtnis: Museen wollen die Pandemie archivieren.

[8] Zukunftsinstitut: Die Zukunft des Museums ist integrativ.

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