Eine gemeinsame Note

14.06.2020

Porträt eines Mannes, lächelnd in die Kamera, hält eine Art Trommel in der Hand
"Wir wollen Multikulturalität in die Mitte unseres Lebens rücken" - Mohcine Ramdan | Foto: Fiona Schweizer

Mohcine Ramdan hat mit Jisr ein Ensemble geschaffen, das Musiker*innen aus der ganzen Welt auf die Bühne bringt. In München beschäftigt er sich an der Universität außerdem mit interkultureller Semantik. Zwei Bereiche, die ihn gleichermaßen inspirieren.

Von: Berkan Cakir

Eine Sprache, die auf der ganzen Welt gesprochen wird, wäre ihm lieber gewesen. Deutsch wollte Mohcine Ramdan deshalb nie lernen. Als er in Marrakesch auf das Gymnasium kam und, ohne danach gefragt zu werden, in das Fach eingeteilt wurde, blieb ihm aber keine andere Wahl. Also lernte er Deutsch, erst widerwillig, dann irgendwann mit so viel Begeisterung, dass es ihn über ein Studium der deutschen Sprache in Rabat am Ende nach Deutschland trieb, an die Universität in Bamberg. Da war Ramdan 21 Jahre alt.

Jisr gab es damals noch nicht. Jisr – arabisch für Brücke – ist eine Musikgruppe, die Ramdan erst ein paar Jahre später zusammen mit zwei Syrern, die aus ihrer Heimat geflohen waren, gründete. Erstmals traten sie 2015 zusammen mit Roman Bunka, einem Oud-Virtuosen, in München auf und spielten arabische Klassik. Heute ist aus Jisr ein mehrköpfiges Ensemble geworden, bei dem Musiker*innen aus allen Teilen der Welt zusammen auf der Bühne spielen.

Mehrsprachigkeit als Normfall

Doch bevor seine musikalische Laufbahn ihren Weg nahm und eine sich gegenseitig inspirierende Verbindung mit dem Sprachstudium entstand, dauerte es. Erst ging Ramdan zum Studium ins jordanische Amman. Anschließend kam er nach München an die Ludwig-Maximilians-Universität – und blieb dort, um eine universitäre Karriere einzuschlagen. Ramdan arbeitet heute am Institut für Deutsch als Fremdsprache und führt in Seminaren angehende Deutschlehrer*innen in die Grundlagen des Spracherwerbs ein. Vor kurzem hat er seine Dissertation abgegeben, die von kontrastiver Semantik handelt. Darin geht es um Fragen wie: Was bedeutet eigentlich Migration? In Deutschland begreifen die Menschen dieses Wort eher als „Empfänger“. „In Marokko dagegen ist es eine Bewegung aus dem Land hinaus“, sagt Ramdan.

Es sind solche feinen sprachlichen Unterschiede, die den gebürtigen Marokkaner in seiner Forschung umtreiben. Mehrsprachigkeit und dessen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft ist ein weiteres Phänomen. Manche Leute, sagt Ramdan, sehen darin die babylonische Sprachverwirrung verwirklicht. Ramdan selbst spricht lieber von der Metapher des Pfingstwunders, bei dem die Jünger in fremden Sprachen reden, und die Menschen sich trotzdem verstehen. In der Geschichte der Menschheit spreche jedenfalls vieles für Letzteres, sagt er. Einsprachigkeit sei eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, die mit der Gründung der Nationalstaaten einhergegangen sei. Davor sei Mehrsprachigkeit etwas völlig Normales gewesen. „Wenn man in die Geschichte zurückschaut, waren die fruchtbarsten Momente, wenn in Kulturen eine sprachliche Öffnung stattgefunden hat“, sagt Ramdan.

Mit dieser Öffnung spielt auch Jisr – in einem musikalischen Sinn. Das Ensemble ist Ramdans Idee, Multikulturalität auf die Bühne zu bringen. Musiker*innen an Kontrabass, Trompete, Oud und Akkordeon spielen nebeneinander, Jazz, Tango, Rock, Balkan, arabische Klassik gehören zum Standardprogramm. Alles in allem sprechen bei Jisr alle eine unterschiedliche musikalische Sprache, finden aber immer eine gemeinsame Note.

Straßenmusik weckte Leidenschaft für Musik

Die Entstehung des Ensembles ist dabei einem glücklichen Zufall zu verdanken. An einem Abend in der bayerischen Landeshauptstadt sollte ein bekannter marokkanischer Gimbri-Spieler zusammen mit der Weltmusik-Band „Embryo“ auftreten. Ramdan, damals noch Student, wollte zu der Aufführung, hatte aber über die Medien mitbekommen, dass der Vater des Musikers kurz zuvor verstorben war. Als er vor der Tür des Konzertsaals stand, wollte er hineinschauen, ob der Musiker denn überhaupt da war. Er war bereits abgereist, und Ramdan gerade wieder am Gehen, als Christian Burchard, Gründer der Embryo-Band, vor der Tür auftauchte. Ein Freund von Ramdan verriet dem mittlerweile verstorbenen Musiker: „Der Mohcine kann auch Gimbri spielen.“ Wenige Momente später fand Ramdan sich dann auf der Bühne wieder, zusammen mit 20 Embryo-Musikern vor 200 Zuhörer*innen.

Die Gimbri zu spielen, brachte sich Ramdan selbst bei. Sie ist ein Instrument mit zweieinhalb Saiten und stammt aus der Kultur der Gnawa, die einst versklavt von der Subsahara nach Marokko verschleppt wurden. Bekannt ist die Gimbri für ihre runden, erdigen Bässe, die heute auch in der Jazz-Musik verbreitet sind. Ramdans musikalisches Interesse liegt in der Familie. Sein Vater spielte die Oud, sein Onkel die Kanun. Seine eigenen Ambitionen entdeckte er aber nicht zu Hause. „Das war nur für die gute Laune“, sagt er. Erst als er als Jugendlicher auf dem Djemaa el Fna, einem großen Platz in Marrakesch, die Gimbri hörte, die dort von den Straßenmusikern gespielt wird, machte er Musik zu seiner Passion.

Christian Burchard war es, der Ramdan nach seinem Auftritt mit Embryo die Tür zur Künstlerszene öffnete. Er knüpfte Bekanntschaften, kam später auf die Idee, ein weltweites Netz zu spannen und ein Ensemble mit vielen verschiedenen Einflüssen zu gründen: Die Geburt von Jisr, der Brücke, an der Ramdan seither baut.

Jisr soll keine „exotische Ausnahme“ sein

Mittlerweile hat Jisr einen Plattenvertrag bei Enja unterschrieben. Am 2. Oktober steht das Release-Konzert des ersten Albums „Too far away“ an – vorausgesetzt die Corona-Krise erlaubt es. Mit Konstantin Wecker trat Jisr schon im Fernsehen auf. Frank-Walter Steinmeier lud das Ensemble 2017 zu einem Festakt im Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen ein. Es gab noch weitere solche Anfragen, von Unternehmen, Kultureinrichtungen, Konzerthäusern. Aber Ramdan lehnte einige davon irgendwann ab. Den Leuten, sagt er, sei es nur darum gegangen, in der Migrationsdebatte das „eigene Image aufzupolieren“. Die Musik von Jisr sei nicht als etwas Normales, nicht als Teil der bestehenden Strukturen, sondern nur als exotische Ausnahme betrachtet worden.

Eben das soll Jisr aber nicht sein, sagt Ramdan, der mit seinem Ensemble die gegenteilige Botschaft verfolgt. Nämlich „Multikulturalität nicht als etwas am Rande der Gesellschaft darzustellen. Wir wollen es in die Mitte unseres Lebens rücken.“

Jisr im Internet: jisr-bruecke.com

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