Getragen von jeder einzelnen Stimme
22.07.2020
Der Leipziger Synagogalchor ist das einzige deutsche Ensemble, das sich auf jüdische Chormusik in all ihren Facetten spezialisiert hat – jenseits konfessioneller Grenzen und stereotyper Vorstellungen der jüdischen Kultur. Er ist damit ein bedeutendes Beispiel deutscher Gedenkarbeit.
Von: Stephanie von Aretin
Das Gras ist bereits gelb, die Blätter der Linde bewegen sich matt im Sommerwind. Seit Mitte März 2020 hat sich der Leipziger Synagogalchor nicht getroffen. Jetzt ist es Juli, und die erste gemeinsame Probe nach der Corona-Zwangspause findet mit Mindestabstand im Garten der Gedächtniskirche Leipzig-Schönefeld statt. Hinter der Mauer aus unverputzten rosa Ziegelsteinen erhebt sich etwas bizarr eine fast schwarze Mini-Pyramide. Die exzentrische Freiin Hedwig von Eberstein wählte die altägyptische Form als Grabstein für sich und ihre Familie.
Jede Stimme zählt
Langsam füllen sich die weißen Plastikstühle, sorgsam im Abstand von anderthalb Metern im Halbrund aufgestellt. Jede Stimme zählt heute für sich, jedes hebräische Wort muss sitzen. „Setzt euch durcheinander, nicht nach Stimmgruppen“, weist Chorleiter Ludwig Böhme seine Leute an. Wenn schon, denn schon. „Wie fühlt sich das an?“, fragt er nach dem ersten Stück. „Einsam wahrscheinlich. Versucht mit dem Nachbarn zu kommunizieren – körperlich, indem ihr euch zuwendet. Tragt euer Empfinden nach außen, macht es groß, fühlt euch groß.“
Jedes einzelne Mitglied des Chors hört die eigene Stimme noch etwas lauter als gewohnt, nimmt sich selbst stärker wahr. Jeder Sänger, jede Sängerin braucht heute noch ein bisschen mehr Mut und Selbstvertrauen. Dann heben die Stimmen zu den hebräischen Worten Ma to wu, ma to wu an – so beginnt das Eröffnungslied der Sabbat-Liturgie.
Gedenkarbeit mit Seltenheitswert
Gedenkarbeit kann auf viele Weisen stattfinden. Jüdische Kulturzentren fördern im Namen der deportierten und ermordeten Jüd*innen Erinnerung, Aufklärung und Toleranz. Städte und Agenturen vermarkten Klezmer-Musik und jüdische Spezialitäten. Synagogen füllen sich langsam wieder. An die durch den deutschen Holocaust fast völlig ausgelöschte jüdische Kultur in Deutschland kann auch in einem evangelischen Kirchengarten gedacht werden – von einer Bürgerinitiative aus allen Schichten, jeden Alters und überkonfessionell. Dort, wo sich 1840 das Komponistenpaar Clara Wieck und Robert Schumann trauen ließ, erklingt nun die Vertonung des fast vergessenen jüdischen Komponisten Louis Lewandowski. Das jedoch hat immer noch Seltenheitswert.
1962 gründete der jüdische Oberkantor in der DDR, Werner Sander, den Leipziger Synagogalchor, zu dem von Anfang an auch Nicht-Jüd*innen gehörten und der sein Debüt in der Kongresshalle feierte. Als Sander 1972 starb, machten es sich andere zur Herzensangelegenheit auf Lebenszeit, Noten in Bibliotheken aufzuspüren, sie per Hand zu transkribieren und den Gesang einzustudieren. „Helmut Klotz übernahm die Leitung des Chors, Anne Weiß hat in den 1980er Jahren unzählige Noten abgeschrieben“, erzählt Chorleiter Ludwig Böhme. In Westdeutschland setzte sich der inzwischen emeritierte Hannoveraner Professor Andor Izsák für die Synagogalmusik ein.
Eine Mischung aus Oratorien- und Synagogalmusik
Denn im Nachkriegsdeutschland zu beiden Seiten der Mauer war schon das ein Problem: Woher die Noten für die Sänger*innen nehmen, wie hebräische Texte in lateinische Buchstaben transkribieren? „Während der Pogrome gegen Juden sind ja nicht nur die Synagogen angezündet worden“, erklärt Böhme. „Es sind auch die Noten verbrannt. Die Musik, dieses Kulturgut, war fast nicht nutzbar. Man musste es erst wiederfinden. Nun gab es einige, die es sich zum Lebenszweck machten, auf Spurensuche zu gehen, um diese Sachen wieder zu entdecken.“
Sander war zwar Jude, doch er setzte von Anfang an auf eine Mischung von Oratorien- und Synagogalmusik. „Jede Kirche hat einen Kirchenchor, jede Synagoge hat ihren Chor, da darf im Prinzip jeder rein - das ist Gemeindeleben“, formuliert Böhme das Konzept. „Unser Zugriff ist ein künstlerischer, kultureller. Deshalb führen wir die Musik nicht im liturgischen Kontext auf, sondern im Konzertformat. Einen Laienchor, der das seit so langer Zeit kontinuierlich betreibt, gibt es in Deutschland nicht noch einmal. Gerade deshalb kommen viele junge Leute zu uns, weil sie das Besondere, das Neue reizt.“ In den letzten Jahren ist der Chor von 25 auf heute rund 35 Aktive gewachsen.
Jüdische Musik im gesellschaftlichen Spannungsfeld
Ein Synagogalchor, der Konzerte gibt, aber nicht ohne weiteres in Synagogen auftreten darf, das ist zugleich gewöhnungsbedürftig und reizvoll. „Je nachdem wie orthodox oder liberal der Rabbiner ist, wird er erlauben, dass andere Veranstaltungen in der Synagoge stattfinden oder auch nicht“, sagt Böhme, ehemaliger Thomaner, studierter Chorleiter und Gründer des bekannten Calmus-Ensembles. „Unser Rabbiner in Leipzig ist ein beeindruckender Mann, wir kennen uns. Aber er ist orthodox. Er würde den Chor nicht in der Synagoge singen lassen, denn mit der Instrumentalbegleitung und gemischter Ausrichtung – also mit Frauenstimmen – entsprechen wir einer liberalen Tradition. In London dagegen haben wir in der Synagoge gemeinsam Gottesdienst gefeiert.“
Wie die christliche Musik, so bewegte sich auch die jüdische geistliche Musik über die Jahrhunderte im Spannungsfeld zwischen dem überhöhten gebeteten Wort und der eigenständigen Kunstform. „Manche Rabbiner sagen, dass hebräische und jiddische Gebetsmelodien bis auf Mose zurückgehen“, sagt Böhme. „Salomone Rossi ist der erste bekannte Komponist, der ab 1600 in Mantua mehrstimmige Chormusik schuf. Auch in der jüdischen Tradition entwickelte sich die geistliche Musik Stück für Stück weiter.“
Einladungen quer über den Globus
Wie Bach und Mendelssohn in ihren Kantaten, so sprachen die jüdischen Komponisten Louis Lewandowski und Salomon Sulzer mit vertonten Psalmen und Gebeten zunehmend Emotionen an. „Auch Bachs Musik hat sich schließlich aus dem liturgischen Kontext gelöst und auf den Konzertbühnen der Welt Einzug gehalten“, verdeutlicht Böhme die Parallelen. Übrigens wurden etliche Psalmen sowohl von christlichen als auch von jüdischen Komponisten*innen vertont.
Der Sprung in die Gegenwart ist gelungen: Auf Initiative des Leipziger Chores wurde die Wiederbelebung der „synagogalen Chormusik des 19. und 20. Jahrhunderts in Ost- und Mitteleuropa“ 2020 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Während eines Konzerts in der Osthalle des Leipziger Hauptbahnhofs – an dem Ort, von dem Leipziger Jüd*innen im Nationalsozialismus deportiert wurden – blieben hunderte Passant*innen stehen, um den ungewohnten Klängen zu lauschen. Quer über den Globus ist der Chor zu jüdischen Kulturfestivals und Konzerten der musica sacra eingeladen.
Kleinere Besetzungen durch Corona
Im Leipziger Pfarrgarten erklingt nun „Der Herr ist mein Hirte“, Psalm 23 in der Vertonung von Louis Lewandowski. Eine junge Frau mit einem Haarschnitt wie die Schauspielerin Jean Seberg sitzt in voller Konzentration kerzengerade. Reinhard Riedel, der die Geschichte des Chors von A bis Z kennt, rückt schnell noch ein paar Extrastühle für die später Ankommenden zurecht. Wie eine hügelige Landschaft wogen nun die Stimmen, sie bringen die Vorstellungskraft zum Schwingen, Frieden kehrt ein an dem sommerlichen Abend zwischen Bäumen und Pyramide.
In diesem Jahr hätte der Chor einen Auftritt auf dem Deutschen Chorfest gehabt. Er hätte während des MDR-Musiksommers gesungen, in Chemnitz, Thüringen und bundesweit auf Festivals für geistliche Musik. „Wir werden den Chor eventuell auch in kleinen Besetzungen neu zusammenschweißen“, kündigt der Chorleiter an. Das wird nach Corona die Zukunft sein mitten in Deutschland, in einem evangelischen Pfarrgarten getragen von jeder einzelnen Stimme.