Quereinstieg statt Krise: Sind Kulturschaffende die Lehrer*innen von morgen?

01.09.2020

Szene in einem Klassenzimmer, der Lehrer steht vor der Tafel, die Schüler*innen hören ihm zu
Schüler*innen von heute sind das Kulturpublikum der Zukunft. | Foto: NeONBRAND / Unsplash

Einerseits herrscht ein gravierender Lehrer*innenmangel an den Schulen, andererseits verschärft die Corona-Pandemie die bereits prekäre Situation von Kulturschaffenden. Ist der Quereinstieg in den Schulbetrieb für Kulturschaffende eine Alternative in unsicheren Zeiten? Nach Ansicht des Kulturwissenschaftlers Gernot Wolfram spricht einiges dafür.

Von: Gernot Wolfram

Es zeichnet sich für viele Kulturschaffende ab, dass die Corona-Pandemie ihre Arbeitswelt langfristig verändern wird. Viele der Probleme, die schon vor der Krise belastend waren – wie etwa mangelnde Publikumsresonanz, faire Verträge, finanzielle Schieflagen – verstärken sich und werden zu ernsthaften Bedrohungen. Es ist Zeit, darüber nachzudenken, welche anderen Wege es aus der Krise gibt, als nur hoffend auf den Staat zu blicken oder die Systemrelevanz von Kultur einzufordern. Zeit vielleicht auch, über Optionen für Künstler*innen als Quereinsteiger*innen in Schulen nachzudenken. Dafür gibt es gute Gründe.

Quereinstieg in Schulen?

Schüler*innen von heute sind das Kulturpublikum der Zukunft. Diese jungen Menschen werden maßgeblich durch ihre Entscheidungen, welche Bücher sie lesen, welche Konzerte sie besuchen, welche Kunst sie goutieren wollen, zur Entwicklung des Kulturlebens in Deutschland beitragen. Ihre migrantischen Erfahrungen, ihre mediale sowie ihre pädagogische Sozialisation werden sich in der Art und Weise widerspiegeln, wie sie sich mit Kunst und Kultur beschäftigen. Es wäre also sinnvoll, die „Kinder der Corona-Krise“ zeitig genug an der Frage zu beteiligen, wie ihre und unsere Zukunft aussehen soll.

Massiver Lehrer*innen-Mangel

Parallel zur Corona-Krise erleben wir im Moment einen massiven Lehrer*innen-Mangel. In Berlin hat Senat auf Social-Media-Kanälen eine Kampagne gestartet. Titel: „Berlin sucht schlaue Leute. Quereinstieg in den Lehrerberuf“. Vorwiegend in naturwissenschaftlichen Fächern fehlt Lehrpersonal, aber auch die Fächer Musik und in den Grundschulen Deutsch und Englisch haben Bedarf. Bemerkenswert ist, dass in der Ausschreibung kaum auf migrantische Erfahrungen als Qualität in der Voraussetzung für den Beruf eingegangen wird, sondern eher auf die unbedingte Notwendigkeit, Deutsch bis in „feinere Bedeutungsnuancen“ zu verstehen und aktiv zu beherrschen. Eine einladende Geste an Migrant*innen würde wohl anders aussehen.

Noch viel auffälliger ist jedoch, dass es in solchen Ausschreibungen kaum oder gar nicht um die Ziele eines solchen Quereinstieges geht. Die Begründung, die man findet, lautet schlicht: „Eine Einstellung als Quereinsteiger ist möglich, wenn Bewerber mit einer Lehramtsbefähigung nicht zur Verfügung stehen.“

Ein Blick auf die Zahlen in Berlin. „Die Zahl der Quereinsteiger unter den Neueinstellungen steigt seit Jahren an, drastisch passierte das erstmals 2014. Wenn man alle Quer- und Seiteneinsteiger, die seither ihre Arbeit in den Berliner Schulen aufgenommen haben, addiert, kommt man auf rund 7000. Schätzungsweise mehr als jeder fünfte Berliner Lehrer hat demnach kein Lehramtsstudium absolviert. In Berlin waren von den neu eingestellten Lehrkräften 2018 rund 60 Prozent Quer- und Seiteneinsteiger. Bundesweit lag dieser Wert viel niedriger, nämlich nur bei 13 Prozent“ , meldete die Zeitung Tagesspiegel in Berlin im Januar 2020. Dabei sind es auffällig viele Schulen an „sozialen Brennpunkten“, in denen Quereinsteiger*innen eingesetzt werden. Es ist nur zu verständlich, dass es hier auch immer wieder Widerstand seitens der klassisch ausgebildeten Lehrer*innen gibt, die um das Einhalten pädagogischer Standards fürchten. Sieben Jahre Lehramtsstudium sind fraglos nicht ohne weiteres durch neue Fortbildungsmodelle zu ersetzen.

Wie divers sollen die Quereinsteiger*innen sein?

Dabei wäre vielleicht genau hier anzusetzen. Welche neuen Perspektiven können Quereinsteiger*innen mitbringen? Welche anderen, diverseren Erfahrungen, Themen, Ideen können sie in das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen stark machen? Und sollten es nicht gerade Menschen aus dem Kulturbereich sein, die besonders dafür prädestiniert sind, ästhetische, diversitätsbezogene und sensible reflexive Formen des Nachdenkens zu vermitteln? Hier würde man sich eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Bildungspolitik und Kulturpolitik wünschen. Eine auf die Zukunft ausgerichtete Veränderung von Strukturen im Bildungs- wie im Kulturbereich. Es gibt bereits eine Menge sehr gute Erfahrungen mit Künstler*innen und Schulen. Meistens laufen diese jedoch – wie beispielsweise das Programm „Kulturagenten für kreative Schulen“ – nur temporär. Mitten in der Krise eröffnet sich aber nun die Chance, dass Kulturschaffende längerfristig in der Bildung tätig werden, freilich in Modellen, die Kunstausübung und Beruf aufeinander beziehen. Viele Kreative, die in den Lehrberuf gewechselt sind, klagen oft darüber, dass sie keine Zeit mehr für künstlerische Aktivitäten haben. Das hängt allzu oft damit zusammen, dass ihre kreativen Talente nur marginal ins Zentrum ihrer pädagogischen Tätigkeit gestellt werden. Ähnliches gilt für Menschen mit Migrationserfahrung oder migrantischen Themenschwerpunkten in ihrer künstlerischen Arbeit. Wer wenn nicht sie wären dafür geeignet, Schüler*innen für unterschiedliche Lebenswelten zu sensibilisieren, für den Reichtum kultureller Diversität, für die Geschichte anderer Länder und Kulturen?

Prägung fürs Leben

Ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin können prägend fürs Leben sein. Viele Kinder kommen heute selbst aus Familien, in denen die Berufswege der Eltern nicht geradlinig verlaufen, in denen es Brüche und Wandel gibt. Lehrer*innen, die selbst solche Erfahrungen kennen, werden möglicherweise auf bestimmte Probleme der Schüler*innen anders reagieren können.

Zudem stellt sich die Frage, ob die „Beschulten“ selbst nicht viel stärker einbezogen werden sollten in die Frage, von wem sie unterrichtet werden und welche gemeinsamen Lernziele im Raum stehen. Das Leben, in das sie hineingehen, wird vom aktuellen Lernstoff häufig nur marginal berührt.

Quereinsteiger*innen bringen außerdem ein Netzwerk mit: im Falle von Kulturschaffenden sind dies Theater, Museen, Galerien, Kinos, Kontakte zu anderen Kulturschaffenden und Expert*innen aus der kulturellen Bildung. Schüler*innen würden es also wirklich mit Inneneinsichten aus der Realität künstlerischer Arbeit zu tun haben, auch mit allen Konflikten, Problemen, Sorgen und Existenzunsicherheiten in dieser Sphäre. Durch den längeren Kontakt zu einer unmittelbaren Bezugsperson in der Klasse hätten sie die Chance, Empathie und Interesse zu entwickeln für eine Welt, die heute vielen Kindern eher exotisch als vertraut erscheint. (Ähnliche Vorteile lassen sich freilich auch für Quereinsteiger*innen aus anderen Feldern wie Jura, Digitale Transformation oder sozialer Arbeit formulieren.)

Jenseits der kulturellen Eliten

Der frühe Besuch von Theatern, eine Lektüre jenseits von Massenkulturware etc. sind nach wie vor ein Schichtenthema. Wenn sich nichts ändert, steht zu befürchten, dass das Kulturpublikum der Zukunft, zumindest in den klassisch gewachsenen Sparten, aus jener Schicht der Bevölkerung kommen wird, die sich qua Geld und Bildung einen Zugang dazu verschaffen. Sie sind es auch, welche die Ungerechtigkeiten des „Mythos Bildung“ fortschreiben, von dem der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani spricht.[1] Daher ist das Thema „Quereinstieg von Kulturschaffenden in den Schulbetrieb“ nicht nur eine Möglichkeit, prekäre Arbeitssituationen zu verändern, sondern auch vorsorgend etwas für den Erhalt der Kulturlandschaft zu tun. Wissenschaftliche Begleitung solcher Prozesse könnte dann vielleicht auch belegen, dass Kinder, die verstärkten Kontakten zu solchen künstlerischen Quereinstiegs-Perspektiven hatten, ein anderes Interesse oder zumindest einen anderen Zugang zu künstlerischen Themen haben: jenseits der Elitendiskurse.

Die Scham des „Brotberufes“

Es ist mir wichtig zu betonen, dass der Schritt in die Schule nur eine Möglichkeit unter vielen ist, der gegenwärtigen Krise etwas entgegenzusetzen. Es wäre auch kein Schritt zurück oder zur Seite, sondern ein Schritt nach vorn. Immer noch herrscht bei vielen Künstler*innen eine Art Scham, wenn sie dauerhaft oder temporär in einen „Brotberuf“ wechseln müssen. Dabei zeigt sich auch in der künstlerischen Praxis, dass die Verbindung zwischen Kunst und anderen Gesellschaftsfeldern wie etwa Bildung, Digitale Transformation, Wissenschaft oder migrationsbezogener Arbeit fruchtbar, innovativ und produktiv sein kann.[2] Eine hochkomplexe Wissensgesellschaft benötigt in besonderem Maße künstlerische Perspektiven in allen Bereichen. Das ist ein Instrument, um einer fortwährenden Effizienzlogik etwas entgegenzusetzen. Es ist auch eine Möglichkeit, künstlerischer Arbeit neue Erkenntnisräume und Netzwerke zu verschaffen.

Rolle der Lehrenden neu denken

Wenn man etwas aus allen relevanten Bildungsreformansätzen lernen kann, dann ist es der Grundansatz, die Rolle der Lehrenden neu und anders zu denken. Verschiedene biografische Hintergründe, Prägungen und Erfahrungen führen zu einer Diversität, die für die Schüler*innen nur ein Vorteil sein kann. Aber auch jene, die in die Bildungsarbeit eintreten, erfahren etwas über Lebenswirklichkeiten, die man eben in einer „künstlerischen Recherche“ nicht voll umfänglich kennen lernen kann. Das Lernen und das Verstehen, das Wissen und das ästhetische Staunen hätten hier die Chance auf neue Verschmelzungsmöglichkeiten.[3]

Der deutsche Staat hat hohe Hürden gelegt, gerade für Menschen mit Migrationsgeschichte, in den Schuldienst einzusteigen. Es wäre Zeit, aus diesen strukturellen Barrieren Türen zu machen, Zugänge für die Vermittlung jener Realitäten, in denen heute junge Menschen aufwachsen. Immer mehr Kinder, die selbst Migrationserfahrung mitbringen, besuchen die Schulen und brauchen Vergleichs- und Identifikationsmöglichkeiten, die ihnen verdeutlichen, wie sich unterschiedliche kulturelle Einflüsse und Perspektiven miteinander in Einklang bringen lassen. Wenn sie dann noch um Dimensionen künstlerischer Sensibilität erweitert werden, wäre das ein lohnenswerter Schritt in ein zukunftsorientiertes Bildungsverständnis.

Fußnoten:

[1] Vgl. El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer&Witsch; vgl. auch Roß, Jan (2020): Bildung. Eine Anleitung. Rowohlt

[2] Vgl. hierzu Föhl, Patrick S.; Wolfram, Gernot: Meister*innen der Zwischenräume – zehn Thesen für eine Kulturarbeit in neuen Räumen. Positionen und Berichte zum Umbruch im Arbeitsfeld Kultur und Kulturmanagement. Onlinepublikation des SKM – Studienangebot Kulturmanagement an der Universität Basel.

[3] Vgl. Wolfram, Gernot (2019): Die Kunst, für sich selbst zu sprechen. Bundeszentrale für politische Bildung Berlin

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