Dekolonisiert euch!
10.09.2020
Die hierzulande vermarktete „Weltmusik“ ist ein Irrtum. Warum die klassische und die zeitgenössische Musikszene in Deutschland sich dekolonisieren muss – und wie sie ihren Platz in der Welt finden könnte.
Von: Sandeep Bhagwati
Im Oktober 2019 hielt ich einen Gastvortrag auf einem Kongress deutscher Musiktheoretiker*innen. „Musiktheorie“ heißt das Fach ganz umfassend, es handelt also, grammatikalisch gesehen, ganz allgemein von DER Theorie ALLER Musik. Eine Teilnehmerin konstatierte allerdings nach Durchsicht des Tagungsprogramms trocken, dass die deutsche Musiktheorie sich wohl auch im 21. Jahrhundert nahezu ausschließlich mit der Musik befasse, die über die vergangenen 1000 Jahre in Europa entstanden sei, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Zeit von 1700 bis 1950.
Eine renommierte Musikhistorikerin karikierte diese kulturdarwinistische Haltung in ihrem Keynote-Vortrag beim Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie in Zürich am 4. Oktober 2019:
- „Einige Kulturen haben an dieser Entwicklung aktiv mitgewirkt. Es sind die fortgeschrittenen Kulturen. (Glückwunsch!)
- Andere Kulturen haben nicht teilgenommen, es sind die primitiven Kulturen. (Pech!)
- Wieder andere haben irgendwann den Anschluss verpasst und sind zurückgeblieben. (Selber schuld!)
- Viele Kulturen haben irgendwann die Superiorität [der europäischen Musiktradition] erkannt und haben diese angenommen. (Geht doch!)“
Die sogenannte „ernste“ Musik europäischer Machart wird von vielen als das historische Endergebnis eines universellen Musikforschens empfunden, neben dem alle anderen Arten des Musikmachens nur als ehrlich bemühte, aber letztlich unreife Versuche erscheinen können. Die Tatsache, dass die eurologische Musiksprache, also Musik, die sich in die westliche Kunstmusiktradition stellt, von vielen als die musikalische lingua franca der Welt angesehen wird, hat aber nicht nur beiläufig, sondern in der Tat gehörig mit der europäischen Kolonialgeschichte zu tun.
Die Kolonialisierung von Musik
Noch heute löschen wirtschaftliche Globalisierungsprozesse durchaus Musiken aus – und wenn diese kurz vorher noch von Ethnolog*innen aufgezeichnet wurden und woanders weiterleben, könnte man ein solches Klangarchiv durchaus als „Raubmusik“ bezeichnen, die eventuell den Nachkommen der Beraubten zurückgegeben werden müsse. Man kann ebenfalls von „Raubmusik“ sprechen – zum Beispiel wenn, wie so oft in Festivals Neuer Musik zu beobachten, ein*e Komponist*in nach einer relativ kurzen Beschäftigung mit einer anderen Musiktradition ihre oder seine danach nur oberflächlich veränderte eurologische Musik etwa als „interkulturell“ deklariert – während man gleichzeitig den politischen und ästhetischen Mehrwert einer anderen Musik vor allem für die eigene Karriere nutzt. Oder wenn eine Melodie aus einem nicht-westlichen Herkunftskontext plagiiert wird, ohne dies kenntlich zu machen, und die Tantiemen und Honorare auf das Konto der „Musikräuber*innen“ fließen. Die Musikpraxis, ihre Lebensrealität, das, was der philippinische Musikwissenschaftler meLê yamomo als den „sonus“ der Musik bezeichnet, kann natürlich nicht im wortwörtlichen Sinne geraubt werden – aber man raubt ohne Fragen und Erlaubnis, meist sogar ohne Wissen der Herkunftskulturen, das, was einen fühlbaren Wert dieser Musik ausmacht.
Wenn also viele Musiktraditionen der Welt heute im Vergleich zur westlichen klassischen Tradition selbst in ihren Heimatländern schwach aufgestellt und marginal zu sein scheinen, so wird das eben auch daran liegen, dass diese Musiken sich nicht auf machtvolle politische, militärische und wirtschaftliche Strukturen stützen konnte.
Kann Musizieren eventuell zum Besseren beitragen? Was müsste sich dann in der „westlichen“ Vorstellung dessen, was Musik und Klangkunst sind, dringend ändern?
„Weltmusik“ ist ein kommerzielles Klischee
Dazu müsste man sich erst einmal darüber verständigen, was die Vorstellung einer Weltmusik überhaupt bedeutet. Gegenwärtig kursieren in der europäisch-nordamerikanischen Musikwelt zwei verschiedene, aber komplementäre Modelle dessen, was Musizieren in der globalen Gesellschaft sei.
Weltsprache Musik: Die Fiktion, dass es nur Musik in der Einzahl gebe, dass Musik die einzige wirkliche Weltsprache sei – das ist im Kern die oben ausgeführte kulturdarwinistisch-kolonialistische Perspektive. Diese verleitet viele Veranstalter*innen und Zuhörer*innen, Konzerte mit Mitwirkenden aus verschiedenen Kulturen, die alle gemeinsam Brahms spielen, genauso als Ausdruck eines globalen Bewusstseins zu empfinden wie Festivals neuer Musik, in denen Komponist*innen mit beispielsweise indischen, arabischen, chinesischen Namen und Herkunftsgeschichten Werke für Streichquartett, Orchester, Elektronik und so weiter schreiben.
World Music (Weltmusik): Dieser Marketingbegriff wurde Anfang der 1980er-Jahre von einem Konsortium kommerzieller Plattenlabel erfunden. Er sollte im Plattenladen eurologische Musik mit deutlich wahrnehmbaren nicht-eurologischen Anteilen kennzeichnen. Der Logik des Marketings folgend, wurden bald auch alle traditionellen Musikformen unter dem Label „Weltmusik“ vermarktet. Diese Weltmusik bedient elegant Schuldgefühle des „westlichen“, meist bildungsbürgerlichen Publikums, die sich in einer Abkehr sowohl von der als elitär empfundenen bürgerlichen Kunstmusik als auch der allgegenwärtigen Kommerzmusik ausleben (was dann, wir leben durchaus im Kapitalismus, eben als „Weltmusik“ zu Geld gemacht wird).
Es seien doch seit Jahrhunderten viele europäische Intellektuelle, von Fernweh erfasst, tief eingetaucht in diese anderen Kulturen – und hätten beim Auftauchen ewig gültige kulturelle Schätze gehoben: vom I Ching zum Rigveda, vom Haiku bis zu den Liedern von Rumi und Hafiz! Das ist richtig. Nur war keiner dieser Schätze – Musik. Aber dann heute: Seit den Beatles hätte doch in der Musikszene Deutschlands indische, afrikanische, arabische traditionelle und Kunst-Musik geradezu einen Ehrenplatz, auch unter deutschen Anhänger*innen. Das stimmt. Allerdings sind deren Konzerte und Festivals fast immer punktuelle und prekäre Initiativen der freien Szene oder der jeweiligen Diaspora, oder sie finden im musealen oder akademischen Kontext – also quasi „außer musikalischer Konkurrenz“ – statt. Dagegen sind alle ganzjährig durchfinanzierten und erlauchten deutschen Musikinstitutionen, Musikhochschulen, Musiksender, Musikpublikationen mit überwältigender Gewichtung der Ausbildung zur, der Präsentation von und dem Durchhören der eurologischen Musik verschrieben.
Für mehr Respekt zwischen Musiktraditionen
Man müsste also die Institutionen ändern, oder die Institutionen müssten sich selbst auf ihre eigenen kolonialen Haltungen prüfen. Doch da stellt sich sehr schnell die Frage: Gibt es denn Alternativen zu diesen beiden kolonialistisch geprägten Modellen? Wie sähe denn ein Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem aus? Wie gelingt der deutschen Musikszene eine Dekolonisation in der Musik?
Was auffällt: Die Diskurs-Expert*innen, die man sich zu Veranstaltungen zu diesem Thema holt, sind meist Theoretiker*innen aus dem anglophonen, gelegentlich auch dem frankophonen akademischen Diskurs. Die deutsche Musik-Debatte hat offenbar noch keinen eigenen, an der eigenen Kolonial-, Musik- und Geistesgeschichte geschärften diskursiven Zugriff auf diese Thematik. Dadurch entsteht bei vielen dieser Bemühungen gerade nicht das Gefühl, dass in ihnen Zukunftsfragen angegangen werden, sondern eher, dass man vor allem mit Aufholen beschäftigt sei. Man rennt quasi dahin, wo der Fußball jetzt ist, nicht dorthin, wo er bald sein wird.
Zum anderen wird die deutsche Diskussion trotz aller angeblichen Offenheit immer noch wie eine intern-eurologische „unter Weißen“ geführt. Perspektiven aus anderen Musiktraditionen werden kaum repräsentiert. Auch bei besten Absichten scheint es bei den allermeisten dieser Initiativen mehr darum zu gehen, wie man mit einem erweiterten musikalischen Arsenal die „Vorherrschaft der deutschen Musik“(-szene) noch ein paar weitere Jahrzehnte mit Einflüssen von außen erhalten kann.
Drittens ist bemerkenswert, wie viel mediales Aufhebens in der „ernsten“ Musikszene Europas davon gemacht wird, wenn Fragen der Dekolonisation und kultureller Diversität einmal bei einem ihrer Events thematisiert werden. Diese Betonung zeigt deutlich, dass dieses Thema noch immer weit davon entfernt ist, vom eigenen Publikum als eine alltägliche Lebenswirklichkeit in einer modernen plurikulturellen Gesellschaft betrachtet zu werden (und es sind oft dieselben Leute, die danach „zum Vietnamesen um die Ecke“ gehen.)
Oft erscheint es, als sei das Land, das einst sein Zuspätkommen im Wettlauf der Kolonialmächte bitter beklagte, nun schon wieder verspätet, wenn es darum geht, sich selbst zu entkolonisieren. Doch welche Rahmenbedingungen wären nötig für eine Musikpraxis, die sich wirklich in eine „Musik der Welt“ einlauschen wollte?
Ein Umdenken im Umgang mit Tradition und Moderne
In seinem Buch „Epistemologien des Südens“ (2018) fordert der Soziologe Boaventura de Sousa Santos eine Neuausrichtung der Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und ihr Bedeutung verleihen. Wissen entsteht laut de Sousa Santos nicht auf eine universell gültige Weise, sondern wird in verschiedenen Kulturen verschieden bedeutet. Für ihn ist die Anerkennung anderer Epistemologien essentiell für globale Gerechtigkeit.
Parallelen zur Musik sind offensichtlich. Zentral für eine Neuausrichtung der musikalischen Epistemologien wäre ein Umdenken, was das Verhältnis von Tradition zu Moderne betrifft. Diese werden in gegenwärtigen Musikdebatten oft als Gegenpole dargestellt – hier die Moderne, dort die Tradition. Wir müssen aber den Begriff der Tradition nochmal überdenken. Traditionen sind beim Musikmachen und Hören unumgänglich, um überhaupt mit Musik kommunizieren zu können. Niemand auf der Welt hat irgendeine bestimmte Musik im Blut: Alle Musik ist immer gelernte, aufgesogene Tradition. Alle Musikmacher*innen navigieren mehr oder weniger auf dem Strom einer Tradition – auch und gerade, wenn sie dagegen anrudern.
Und so ist natürlich die eurologische „Neue Musik“ ebenfalls eine traditionelle Musik. Ihr Selbstbild beharrt zwar darauf, die eigene Musikszene als permanent anti-traditionell, als institutionalisierte Revolution zu präsentieren. Aber die Praxis scheitert an diesem Anspruch gewaltig: Seit 70 Jahren spricht man nun schon vom „Altern der Neuen Musik“, in der sich Techniken, Ästhetiken, Klangformen hartnäckig festgetönt haben und die überschaubare Fanbase nun eifernd über ihre Erinnerungen an eine Zukunftsmusik wacht. Ist die finnische Komponistin Kaija Saariaho aber wirklich künstlerisch weiter entwickelt als Hildegard von Bingen?
Eine Welt von Alleshörenden
In der Popmusik ist, auch durch das Streaming, ein neuer Hörer*innentyp zu beobachten: die hedonistisch Alleshörenden. Sie hören nicht mehr nach Tradition, Stil oder Genre, sondern querbeet. Auch ihre Auswahlkriterien sind individualistischer: Sie stehen damit quer zu den eher in der Hörgemeinschaft verankerten ästhetischen Rangordnungen, wie sie innerhalb der Musiktraditionen entstanden sind. Auf dieser Basis ließe sich eine Vision einer Weltmusik gründen, in der wir alle zu Alleshörer*innen werden.
Denn jede Tradition, die von heute lebenden Musiker*innen in die Luft vibriert wird, wäre dann genauso zeitgenössisch wie jede andere: Eine mittelalterliche Motette von Machaut wäre so zeitgenössisch wie ein Kriti von Thyagarajan, ein koreanischer P’ansori so zeitgenössisch wie ein Solo Anthony Braxtons, Mei Lanfangs Guifei Zuijiu (Die betrunkene Konkubine) so zeitgenössisch wie Monteverdis Lettera Amorosa.
Gerade weil Musik nichts Konkretes bedeuten muss, ist sie prädestiniert zu einer „Weltmusik“ im Goethe’schen Sinne, einer Blütenlese jener Musikstücke, die über die Grenzen ihrer Tradition hinaus Menschen berühren können. Dabei müssten natürlich auch alle Missverständnisse gleichwertig gelten. Wenn also der Dhrupad-Meister Uday Bhawalkar die Variationen op. 27 von Anton Webern auf ihre interessante Raga-Struktur hin anhört, begeistert ist von deren kombinatorischen Reichtum und nur kritisch beklagt, dass der Komponist so wenig Musik daraus entwickelt („Das hätte man doch mehrere Stunden auskosten können!“), so muss diese quer zu unserem Verständnis dieses Stückes verlaufende Wertschätzung ebenso gelten wie die Musikparaphrasen osmanischer, indischer, balinesischer, chinesischer und japanischer Musik, zum Beispiel bei Mozart, Boulez, Puccini, Holst, Debussy, Messiaen und Cage – oder das westliche Genießen eigentlich höfischer Musik Indiens als spirituelle Meditationsmusik. Das „authentische“ Verstehen ist nicht zwingend besser als ein schöpferisches Missverstehen.
Eine brasilianische Komponistin allein macht noch keine Dekolonisation
Es wäre zu bedenken, ob nicht auch Veranstalter*innen von Musikfestivals, die sich mit der Musik der Welt auseinandersetzen möchten, dieser neuen Hör-Logik deutlicher Rechnung tragen sollten. Man könnte sich demzufolge Musikfestivals vorstellen, die in wirklich kuratorischen Setzungen über alle Genre/Tradition/Stil-Grenzen hinweg programmiert werden. Denn ein*e brasilianische*r Orchesterkomponist*in allein macht noch keine Dekolonisation – genauso wenig wie eine Konzertreihe aus lauter indonesischen Musiker*innen, die zu Hause gerne Hip-Hop hören, aber hier nur als traditionelle Gamelanspieler*innen auftreten dürfen.
Eine solche Weltmusik würde also ein anderes Denken darüber bedeuten, was wir als musikalische Aktivität begreifen. In dem 1998 veröffentlichten Buch „Musicking. The Meanings of Performing and Listening” plädierte Christopher Small dafür, Musik nicht, wie es seit der Erfindung der Schallplatte üblich geworden ist, als Objekt, sondern immer als eine Aktivität, ein Werdendes zu verstehen. Und dieses Werdende müssen auch andere als die Musiker selbst wollen: Zuhörende, Angestellte der Kulturinstitution, Kurator*innen, Finanziers, ja selbst die Architekt*innen des Saals sowie die Werbeabteilung. Beispielsweise stellen wir das eurologische Konzertritual des abendlichen Stillsitzens-und-Zuhörens kaum je in Frage. Doch auch dieses begünstigt wiederum manche Musiktraditionen mehr als andere.
Jetzt ist die Zeit gekommen, diesen anderen Traditionen endlich einmal ernsthaft zuzuhören. Der Kultursoziologe Deepak Chakraborty fordert schon seit dem Jahr 2000 eine Provinzialisierung Europas, ein neues Lebensgefühl, das versteht, dass wir unsere grundsätzlich berechtigte und sogar existentiell bedeutsame Liebe zu unserer kulturellen Heimat nie für mehr als eine provinzielle Regung halten sollten. Angelehnt an die Worte von John F. Kennedy: Lasst uns nicht fragen, was die Musik der Welt für uns tun kann, sondern lasst uns überlegen, was wir für die Musik der Welt tun können. Oder anders ausgedrückt: Lasst uns in der Musik nicht Weltherrscher sein wollen, sondern lasst uns musikalische Weltbürger werden.
Dieser Essay erschien in dieser Form zuerst im Magazin des Projekts #bebeethoven2020 des PODIUM Esslingen und ist eine gekürzte Version des im Online-Magazin VAN Outernational erschienenen Textes „Zurückhören, bitte!“, der wiederum teilweise im Auftrag des Goethe-Institutes entstanden war.