Es braucht Trans*formationen!
02.11.2020
Schon seit Jahrzehnten kämpfen trans* und *inter-Communities gegen die scheinbar „natürliche“ binäre Gesellschaftsordnung an und stellen so vorherrschende, postkoloniale Machtstrukturen infrage. Auch (kulturelle) Bildungsangebote müssen trans*formativen Perspektiven Raum bieten, um so zu einem selbstkritischen Bildungsverständnis beizutragen.
Von: Simon Noa Harder
Zweigeschlechtlichkeit ist eine vorherrschende, naturalisierte und gesellschaftlich tiefverankerte Struktur. Die historische Einführung des dritten Geschlechtseintrags durch das deutsche Bundesverfassungsgericht im Jahr 2017 schuf erstmals eine umkämpfte rechtliche Grundlage für Geschlechtlichkeiten jenseits der Zwei-Geschlechter-Ordnung. Für letztere haben jahrzehntelange aktivistische Kämpfe von Einzelnen sowie z.B. trans*- und inter*-Communities seit der Jahrtausendwende eine gestiegene Sensibilisierung in Politik und Gesellschaft erreicht – auch im sogenannten deutschsprachigen Raum.
Trans*formative Ansätze bauen darauf auf und sind herausgefordert, diskriminierungskritisch mit den komplexen Hierarchien aufgrund von Intersektionalität umzugehen, die keine einfachen, binären Verhältnisse erlauben (vgl. El-Tayeb 2015: 53). Trans*formative Bildungsangebote zielen auf differenzsensible Ermächtigung und Resilienz von trans*-, inter*- und nicht-binären Personen. Das beinhaltet die produktive Verunsicherung dominanter Positionen und einen konstruktiven Umgang mit der Gefahr von Narrativen, die im Schaden verhaften (Ware 2017). Dies macht der kanadische Künstler, Aktivist und Forscher Syrus Marcus Ware in Bezug auf die verbreitete Auslassung von Schwarzen Initiativen und Geschichten klar, die überschneidende Formen von strukturellen Diskriminierungen herausfordern:[1]
«[E]ven when communities are broken and conquered, they are so much more than that – so much more that this incomplete story is an act of aggression» (Eve Tuck zitiert nach Ware 2017: 174).
Es braucht Trans*formationen!
Die gestiegene Aufmerksamkeit für Geschlechtlichkeiten jenseits der Zwei-Geschlechternorm darf nicht über deren wirkmächtige, fundamentale Kontinuität hinwegtäuschen. Sie zeigt sich etwa darin, dass trans*, inter* und nicht-binäre Personen von Bildungsinstitutionen kaum als partizipierende, eigenständige Akteur*innen adressiert werden. Oft werden sie als die „Anderen“ gerahmt und exotisiert, was eine machtkritische inhaltliche und analytische Auseinandersetzung mit der Norm erschwert. Bildungsinstitutionen werden von ihnen vielfach als traumatisierend und als Angsträume erlebt. Gemäß einer jüngeren Studie zur Lebenssituation und den Bedürfnissen von trans* Jugendlichen (Arn/Sauer 2016) gleicht ein wertschätzender, unterstützender Umgang mit Trans*Thematiken an Schulen einer Utopie (vgl. ebd. 54). Yv E. Nay (2017) zeigt auf der Basis aktueller Forschung für trans*, dass der „Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Bildungsbereich“ eingeschränkt ist (ebd. 203).
Bildungswege von inter* Personen sind laut der Organisation Intersex International Europe (2017) oft von Beginn an schwierig. Nicht nur, dass ihre Realitäten kaum ein bestärkender, wertgeschätzter Teil von Lehrplänen sind. Inter* Kinder und Jugendliche sind auf dem Bildungsweg besonders verletzlich für psychische und physische Gewalt (vgl. OII Europe 2017: 13). Für ermächtigende Räume und die Verschiebung institutionalisierter Normen wird an Schulen gearbeitet und gekämpft (vgl. z.B. Debus/Laumann 2018; Peşmen et al. 2015; QueerSchool e.V.).
Dabei ist mit heterogenen Gruppen und der besonderen Verwundbarkeit von trans*, inter* und nicht-binären Positionen in einem heteronormativen System umzugehen, ohne sie auf eine Opferrolle und Diskriminierungserfahrungen zu reduzieren oder ungewollt zu outen. Es besteht dringend Handlungsbedarf. Um zur intersektionalen „Öffnung von Welten“ beizutragen, bedarf es ebenso dringend komplexer Bildungsangebote,[2] um Identitäts- und postkoloniale Logiken aufzubrechen, mit denen trans*formative Ansätze konfrontiert sind.
Das Zwei-Geschlechtermodell ist eine postkoloniale Institution
Aus weißer Perspektive braucht es dafür eine kritische Auseinandersetzung damit, was Yv E. Nay als „Atmosphäre des Unbehagens“ bezeichnet hat (Nay 2017). Trans* Politiken des globalen Nordens und Westens entstehen aus Unbehagen mit dem diskriminierenden Status quo und sind affektiv begründet. Nay macht deutlich, dass ihnen gewaltvolle, postkoloniale Logiken eingeschrieben sind, die zu Ausschlüssen, Konflikten und Brüchen des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gemeinschaft führen (vgl. Nay 2017: 203ff.). Sie sind Effekte von strukturellem Rassismus. So hat die kürzlich verstorbene dekoloniale Feministin und Philosophin María Lugones (2008) gezeigt, dass normative Zweigeschlechtlichkeit ein konstitutives Modell für eurozentrische, weiße Bürgerlichkeit und eine rassifizierende, für koloniale Expansion und globalen Kapitalismus grundlegende Abgrenzungsfigur war.
Es wurde durch Kolonialismus gewaltsam exportiert, aufoktroyiert und durch Zerstörungen und Unterwerfungen von Kulturen, Wissensformen und Praxen zur global vorherrschenden Norm (vgl. Lugones 2008: 7ff.). Diese Geschichte(n) sind diesem Modell und auch Widerstands-Konzepten wie trans* eingeschrieben und wirken fort. Das machtvolle, Rassismus-verleugnende Narrativ, das Fatima El-Tayeb analysiert und das sich in Bezug auf die (Selbst)Wahrnehmung von Kontinentaleuropa global durchgesetzt hat (vgl. El-Tayeb 2015: z.B. 21), macht diese Verbindungen unsprech- und undenkbar. Wie können, so die daran anschließende Frage, trans*formative kulturelle Bildungsangebote normative Zwei-Geschlechtlichkeit sowie deren innewohnende Postkolonialität und die damit verbundenen Gewaltverhältnisse herausfordern?
Ansatzpunkte für trans*formative kulturelle Bildung
Der Fokus auf die Verwobenheit von Kolonialität und normativer Zwei-Geschlechtlichkeit konfrontiert mit dominanten Narrativen und Identitätslogiken und mit massiven Abwehrmechanismen auf pädagogischer, emotionaler und intellektueller Ebene. Trans*formative Ansätze setzen sich mit der eigenen Geformtheit von Gewaltverhältnissen sowie damit auseinander, in die Wiederholung dieser Verhältnisse involviert zu sein. Solche Ansätze lassen sich auf einen kontinuierlichen Ver/Lernprozess ein und suchen nach einem achtsamen Umgang mit Differenzen, wofür sie die eigene Position als situiert, also als verkörpert, kontextbedingt und eingebunden in soziale Machtverhältnisse (Haraway 1995), begreifen und anbieten.
Für diesen Ver/Lernprozess setzen sie verschieden positionierte macht- und diskriminierungskritische Wissensformen in Beziehung. Sie erkennen an, dass sich Wissen unterschiedlich materialisiert und vorherrschende Logiken bestimmte Wissensformen marginalisieren. Sie suchen nach komplexen Verhältnissen von Wissensformen, um die Grenzen davon zu bearbeiten, was als Wissen gilt, und die eigenen Bedingungen verhandelbar zu machen.
Schließlich ist trans*formative kulturelle Bildung ein hochkomplexes pädagogisches Geschehen. Das erfordert neben dem Einbezug vielschichtiger Handlungsdimensionen ein selbstkritisches Bildungsverständnis (vgl. Harder 2020: 39ff.). Das bedeutet nicht zuletzt und zentral emotionale Arbeit (Adusei-Poku 2018). Trans*formationen sind weder ohne die (selbst)kritische emotionale Arbeit mit Angst, Wut oder Scham, aber auch mit Euphorie oder Freude, noch ohne undisziplinierte intersektionale Bezüge zu haben.
Und – so setzten es die Organisator*innen AnouchK, Farzada, Ford, Julius, Lautaro und Zoya (2018) beim TransFormations Trans* Film Festival Berlinbeispielhaft um: Das kollektive Einbeziehen von different positionierten, intersektionalen Perspektiven kann trans*formativen Räume schaffen, die Weißsein dezentrieren. Es ist eine kollektive Aufgabe, die insbesondere von Positionen mit Definitionsmacht getragen werden muss![3]
Fußnoten:
[1] Im Aktivismus gegen die strukturelle rassistischen, behindertenfeindlichen, sexistischen und heteronormativen Gewaltverhältnisse setzt sich Ware für inspirierende Narrative der Hoffnung ein, ohne den gewaltvollen Status quo auszublenden – z.B. in seinem Activist Love Letters Projekt (https://syrusmarcusware.com/past-projects-exhibitions/activist-love-letters/ 19.10.2020), das von James Baldwin (1970) offenen Brief an Angela Davis inspiriert wurde.
[2] Initiativen wie z.B. LesMigraS (https://lesmigras.de/) arbeiten seit Langem in diese Richtung.
[3] Den Kooperationen mit Jonah I. Garde (u.a. bei Love Trans*formations, Les Complices*, Zürich, 2019) verdanke ich zentrale Anregungen für diesen Text.
Literaturhinweise:
Adusei-Poku, Nana (2018): Alle müssen alles lernen oder: emotionale Arbeit. In: Art Education Research No. 14, online: https://blog.zhdk.ch/iaejournal/files/2018/03/n°14_Nana_Adusei-Poku_DE.pdf, S. 1-8.
AnouchK/Farzada/Ford/Julius/Lautaro/Zoya (2018): Booklet zum TransFormations Film Festival No. 2 Berlin. Berlin, TransFormations Trans* Film Festival.
Baldwin, James (1970): An Open Letter to My Sister, Angela Y. Davis. Online: https://www.nybooks.com/articles/1971/01/07/an-open-letter-to-my-sister-miss-angela-davis/ (19.10.2020).
Debus, Katharina/Laumann, Vivien (Hg.) (2018): Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt. Zwischen Sensibilisierung und Empowerment. Berlin: Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.
El-Tayeb, Fatima (2015 [2011]): Anders Europäisch. Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa. Münster, Unrast.
Haraway, Donna (1995): Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Dies. (Hg.): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main/New York, Campus, S. 73-97.
Harder, Simon Noa (2020): Kontext: Kunstvermittlung als Verhandlungsraum von Un*Sichtbarkeiten? In: Di*ers: Transformations & Art Education. Un*Sichtbarkeiten verhandeln. Wien, unveröffentlichte Dissertation.
Lugones, María (2008): The Coloniality of Gender. In: Worlds & Knowledges Otherwise Jg. 2 (Spring 2008), S. 1-17.
Nay, Yv E. (2017): Affektiver Trans*Aktivismus. Community als Atmosphäre des Unbehagens. In: Hoenes, Josch; Koch, Michael_a (Hg.): Transfer und Interaktion: Wissenschaft und Aktivismus an den Grenzen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit. Oldenburg, BIS, S. 203-221.
OII Europe (2017): Die Menschenrechte Intergeschlechtlicher Menschen Schützen – Wie können Sie helfen? Berlin, Organisation Intersex International Europe e.V.
Peşmen, Azad; Zodehougan, Senami; Woytek, Sven; Hager, Bella; Tanyılmaz, Tuğba (Hg.) (2015): Intersektionale Pädagogik. Handreichung für Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen, Lehrkräfte und die, die es noch werden wollen. Berlin, i-päd.
Sauer, Arn; Meyer, Erik (2016): Wie ein grünes Schaf in einer weißen Herde. Lebenssituationen und Bedarfe von jungen Trans*-Menschen in Deutschland. Berlin, Bundesverband Trans*.
Ware, Syrus Marcus (2017): All Power to All People? Black LGBTTI2QQ Activism, Remembrance, and Archiving in Toronto. In: Transgender Studies Quarterly 4 (2), S. 170-180.