Cultural Translation: Wie Kultureinrichtungen zu neuen Erkenntnisorten werden können

20.11.2020

Zwei Kinder spielen in einer Kunstinstallation
Foto: Clarisse Croset/Unsplash

Angebote der Kunst- und Kulturvermittlung, vor allem wenn sie transkulturell und diskriminierungssensibel ausgerichtet sein sollen, benötigen Übersetzungsarbeit, um ihre volle Wirkung entfalten zu können.

Von: Gernot Wolfram

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat die Wissenschaft im Bereich Rassismus-Forschung, Xenophobie-Forschung und in der Sichtbarmachung von Ausgrenzungsstrukturen Erstaunliches geleistet. Die Literatur und Theoriebildung in diesen Feldern sind äußerst differenziert und vielschichtig, freilich zuweilen auch widersprüchlich und disparat. Die theoretischen Positionen haben aber in dieser Fülle eines verdeutlicht: tiefsitzende Strukturen der Diffamierung und Stereotypisierung von Menschen sind aufklärbar.

Umso erstaunlicher ist es, dass die intensiven Anstrengungen der wissenschaftlichen Theoriebildung auf eine Gesellschaft treffen, in der Spaltungen eher zunehmen und auch die Erfahrungen von Rassismus und Ausgrenzung weiterhin wachsend sind. So gingen im Jahr 2019 mehr als 3.500 Beratungsanfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein. Vor allem Fälle rassistisch begründeter Diskriminierung haben deutlich zugenommen.[1]

Rational begründetes Wissen benötigt eine Übersetzung

Es zeigt sich, dass wissenschaftliche Erkenntnis eine Übersetzung braucht, eine sprichwörtliche Ver-Sinn-Lichung, in welcher das rational Erkannte sich auch in Formen von Empathie und mutualem Verständnis niederschlägt. Der für seine komplexen theoretischen Texte bekannte Soziologe Niklas Luhmann formulierte es durchaus selbstkritisch einmal so: „Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie (…) Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit die Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist.“[2]

Differenzierung vermitteln

Diese Übersetzungsleistung in eine „Art Parallelpoesie“ trifft sehr genau einige Kernfelder der Auseinandersetzung mit „Cultural Translation“ , welche für viele Kulturbetriebe ein immer wichtiger werdendes Feld der Bezugnahme darstellt; insbesondere, wenn es um Fragen von „kulturellem Rassismus“ geht. Kultursensibles Wissen benötigt eine Übersetzung, eine künstlerische und performative Reflektion auch in Bevölkerungsschichten hinein, die theoriebasierten Erkenntnissen eher skeptisch bis gleichgültig gegenüberstehen.

Kunst als Kommunikation

Die Kulturwissenschaftlerin Christiane Dätsch spricht in diesem Zusammenhang von einem „kollaborativen Verständnis von Kunst als Kommunikation.“[4] Die Betonung von kollaborativ ist hier entscheidend, da die Übersetzungsleistung als gemeinsame Herausforderung verstanden wird, bei der viele Akteur*innen der Zivilgesellschaft beteiligt werden sollen und müssen.

Viele Theater, Museen und Kulturbetriebe in Deutschland setzen hier bereits auf solche Ansätze, indem sie etwa beim Thema Migrationserfahrungen, Inklusion und Antirassismus-Arbeit auf Modelle von kultureller Übersetzung zurückgreifen. Doris Bachmann-Medick beschreibt diesen Prozess so: „Übersetzung expandiert zu einer Leitperspektive für das Handeln in einer komplexen Lebenswelt, für jegliche Formen des interkulturellen Kontakts, für Disziplinenverknüpfung und für eine methodisch geschärfte Komparatistik im Zeichen einer Neusicht des Kulturenvergleichs.“[5]

Was versteht das Publikum?

Gleichwohl lässt sich die Frage stellen, ob diese Leitperspektive auch innerhalb der Rezeption und Publikumsresonanz bereits diese Bedeutung gewonnen hat. Genauer gefragt: Lassen sich aufklärerische Wirkungen beschreiben oder gar messen? Übersetzen heißt eben nicht nur, andere Semantiken zu verdeutlichen, sondern auch die Frage zu stellen, ob sie verstanden werden.

Bibliotheken als gelungene Beispiele

Ein gelungenes Beispiel für interkulturelle Übersetzungsarbeit stellt die Stadtbibliothek Duisburg dar, die mit ihrer „Interkulturellen Bibliothek“ Maßstäbe gesetzt hat für eine rezeptionsorientierte Übersetzungsarbeit, welche Partizipation und Teilhabe in den Mittelpunkt rückt. Der große Zuspruch, den die Bibliothek seit Jahren erfährt, verdeutlicht, dass eine komplexe Publikumsorientierung ein richtiger Weg ist. Der für die Interkulturelle Bibliothek zuständige Leiter Yilmaz Holtz-Ersahin hat sich in diesem Kontext für das Projekt „Demokratieführungen“ für Schüler*innen und Migrant*innen in der Interkulturellen Bibliothek stark gemacht.

„Diese Führungen dauern eineinhalb Stunden und finden in Form von Gesprächen statt. Dabei haben die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen und sich freiwillig mit vielfältigen Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, allgemeingültigen Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus auseinanderzusetzen.“[6] Aufschlussreich bei diesem Ansatz ist die Betonung der Bedeutung eigener Reflektionen von Erfahrungen und Zugängen seitens der Rezipient*innen. Darüber sprechen, was man verstanden hat, was man verstehen will, aber auch darüber, was irritiert und verunsichert – das sind grundlegende Schritte einer kulturellen Übersetzungsarbeit, in der zwischen Sprachen, Erfahrungen und Sozialisationen hin- und her gewandert wird.

Die Bibliothek bietet dabei eine Vielzahl von Medien aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten an und bemüht sich darum, aus der Bibliothek einen interaktiven Erkenntnisort zu machen. Keine dogmatischen Setzungen von Richtig oder Falsch, sondern Diskurs und Auseinandersetzung prägen hier die Ansätze der transkulturellen Vermittlungsarbeit.[7]

Land versus Stadt

Ein weiteres Projekt, das diese kulturelle Übersetzungsarbeit erfolgreich adressiert, ist das Förderprogramm „Und seitab liegt die Stadt.“[8] Es handelt sich hierbei um ein Projekt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Literarischen Colloquiums Berlin und fördert bundesweit literaturbezogene Veranstaltungen für Erwachsene, Jugendliche und Kinder in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Unter dem Themenschwerpunkt „Herkunft“ wurden 2020 in verschiedenen ländlichen Regionen innovative Veranstaltungsformate gefördert, welche die Diskurse über Fremdheit und Anderssein aus den großstädtischen Zentren herausführten.

Vor-Ort-Reflektion

Aufgrund der Corona-Pandemie waren die Veranstalter*innen hier vor besondere Herausforderungen gestellt. Zugleich zeigte sich, dass gerade in ländlichen Räumen der Bedarf nach Gespräch, Reflexion und Auseinandersetzung besonders groß ist. In einem der geförderten Projekte, der in Lüchow-Dannenberg (Wendland) veranstalteten Lesereihe „Wurzeln und Wandel“, kuratiert von der Kulturmanagerin Britta Gansebohm, war die Resonanz so positiv, dass sich im Laufe des Sommers immer mehr Gäste auf der Wiese des Künstlerhofes Schreyahn einfanden.

Die Nachfrage nach den Open Air Veranstaltungen war – trotz der Corona-Pandemie – so groß, dass sich im Laufe dieses Literatursommers insgesamt rund 600 Gäste unterschiedlicher Generationen, Geflüchtete aus verschiedenen Ländern und Menschen mit unterschiedlichen Bildungshintergründen auf der Wiese des Künstlerhofes Schreyahn einfanden, um Autor*innen wie Dilek Güngör, Emilia Smechowski, Shida Bazyar, Jan-Peter Bremer und Güner Yasemin Balci zuzuhören. Dabei war es der Kuratorin Gansebohm wichtig, sehr viel Zeit für Gespräche und Diskussionen einzuräumen.

Der Erfolg solcher teilhabe-orientierten Ansätze bestätigt den Ansatz der Forschung zur Cultural Translation, dass die „Vernetzung binnendifferenter Lebensformen“[9] nur da gelingen kann, wo kulturelle Arbeit sich an Orten manifestiert, an denen sich auch gesellschaftliche Probleme manifestieren.

Erkenntnisse nicht vorwegnehmen

Allzu oft, leider auch in den Debatten zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, werden Erkenntnisresultate bereits vorweggenommen, anstatt sie erst einmal partizipativ und reflektierend an den Orten zu erarbeiten, wo Probleme und Ausgrenzungen entstehen. Kulturbetriebe als „Erkenntnisorte“ zu begreifen, ist nicht nur ein programmatischer Wunsch; es ist eine messbare und evaluierbare Realität, die vor allem für die derzeitige Relevanzdiskussion während der Corona-Krise eine zentrale Rolle spielt.

Differenzierend und Erkenntnis schärfend an Begriffen und Problemen zu arbeiten, ist nicht nur eine Aufgabe der Wissenschaft, sondern betrifft alle, die sich mit Fragen nach Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft beschäftigen. Je präziser man sich Probleme anschaut, stereotypische Wahrnehmungsfelder und aggressive Meinungsbildungen genau untersucht, desto eher wird man auch Lösungen finden, wie man in einer liberalen Gesellschaft mit Phänomenen von Diffamierung umgeht. Sie nur zu benennen und zu beklagen, reicht nicht. Aufklärung benötigt Übersetzungsarbeit, besonders jene spezifische der Kunst, die, um noch einmal an Luhmann anzuschließen, Dinge „anders sagen“ kann, und damit vielleicht wirkmächtiger ist als viele andere Angebote.

Fußnoten:

[1] Vgl.: https://www.euractiv.de/section/soziales-europa/news/rassistisch-begruendete-diskriminierung-in-deutschland-nimmt-zu/

[2] Luhmann, Niklas (1975): Soziologische Aufklärung. Band II. Opladen. S.176 ff.

[3] Vgl. Dätsch, Christiane (Hrsg.*in) (2018): Kulturelle Übersetzer. Kunst und Kulturmanagement im transkulturellen Kontext. Bielefeld.

[4] Vgl. Dätsch (2018), S. 10

[5] Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg. S.239.

[6] Vgl. https://b-u-b.de/demokratiefuehrungen/

[7] Vgl. https://www.duisburg.de/microsites/stadtbibliothek/standorte/interkulturelle-bibliothek.php

[8] Vgl. https://lcb.de/foerderung/und-seitab-liegt-die-stadt/

[9] Mittelhammer, Florian (2018): Kultur als Übersetzungsprozess. Annäherungen an einen Begriff. In: Dätsch, Christiane (Hrsg.*in) (2018): Kulturelle Übersetzer. Kunst und Kulturmanagement im transkulturellen Kontext. Bielefeld., S. 28