„Flucht 2.0: An Odyssey to Peace“ – Eine Ausstellung aus der Perspektive Geflüchteter
Nominiert für den Sonderpreis für Projekte zur kulturellen Teilhabe geflüchteter Menschen
21.04.2016
Ein gemeinsames Ziel kann Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion zusammenbringen. Diese Erfahrung machten Einheimische und Geflüchtete in Ingelheim am Rhein. Aus der Idee, Flucht und Ankunft aus der Perspektive von Betroffenen zu erzählen, entstand die Ausstellung „Flucht 2.0 - An Odyssey to peace“.
Von: Canan Topçu
Nur ein paar Schritte, schon ist der Besucher mitten drin. Mitten drin in einem Zimmer, dessen Wände voll mit Einschusslöchern sind. Auf dem Boden liegen Schutt und Ziegelsteine, Teile eines Holzstuhls, kaputtes Spielzeug und ein rosafarbiger Kinderschuh. An den durchlöcherten Wänden hängen großformatige Fotos; sie sind so platziert, als seien sie Fenster mit Blick ins Freie. Tatsächlich handelt es sich um großformatige Handybilder, die zerbombte Gebäude zeigen.
Nach nur ein paar Schritten ist der Besucher mitten drin im Kriegsgebiet - sofern er sich auf den Perspektivwechsel einlassen kann. Das nämlich ist eines der erklärten Ziele der Ausstellung „Flucht 2.0 - An Odyssey to peace“. Teil davon ist das beschriebene Zimmer; es ist „Aufbruch“ betitelt und die erste von sechs Stationen. „Marsch“, „Lager“, „Mittelmeer“, „Europa“ und „Ankommen“ heißen die weiteren Stationen, die mit unterschiedlichen Medien und interaktiven Installationen gestaltet sind. So kann sich der Besucher in ein nachgebautes Flüchtlingsboot hineinsetzen und sich dabei Handy-Aufnahmen anschauen, die an die Wand projiziert werden. Das Video zeigt reale Szenen der Odyssee auf dem Meer.
„Flucht 2.0“: Schon der Name verweist auf die multimedialen Elemente. Außer dem zerbombten Zimmer gibt es eine nachgebaute Schutzhütte, ein Boot und ein umzäuntes Lager; gezeigt werden auch reproduzierte Originaldokumente, Interviews und vergrößerte Handyfotos, Screenshots von Facebook-Seiten. Es sind aber keine fiktiven Flüchtlings-Geschichten: Acht reale Menschen erzählen ihr ganz persönliches Schicksal. Sie heißen Ahmed, Aron, Farhad, Fisseha, Kahled, Khanum, Rami und Sufyan; sie stammen aus Afghanistan, Eritrea, Pakistan und Syrien; die einen sind muslimischen Glaubens, die anderen ChristInnen, und ihre Sprachen sind Arabisch, Tigrinya und Englisch.
Weil einige aus Angst vor Repressalien für ihre Familien im Heimatland ihre Identität nicht Preis geben wollten, stellen sich alle Beteiligte der Ausstallung nur mit Vornamen vor. Der aus Damaskus stammende Ahmed ist einer von ihnen. Seine Geschichte erzählt er in einem Interview, das auf einem der Bildschirme läuft. „Um ehrlich zu sein: Mein einziger Gedanke in diesem Boot war, dass ich nicht sterben wollte, ohne meine Mutter noch einmal sehen zu können.“
Ahmed hat inzwischen Asyl in Deutschland bekommen – und seine Mutter hierher geholt. An seinen Fußmarsch erinnert sich Aron in einem weiteren Interview: „Wir sind von Äthiopien in den Sudan gelaufen. Das hat neun Tage gedauert ... Es gab nichts zu essen. Es waren auch Kinder und Frauen dabei. Pah ... Wenn man das so erzählt, klingt das so einfach.“
Das besondere dieser Ausstellung ist, dass die Flüchtlinge nicht nur von ihren Motiven für die Flucht und die Erinnerung daran berichten. Sie arbeiteten auch am Ausstellungskonzept mit, stellten Originaldokumente zur Verfügung und beteiligten sich mit Hammer oder Pinsel, Stift oder Mikrophon, Kamera oder Lötkolben an der Umsetzung. Der eine malte die Wand an, ein zweiter stand hinter der Kamera und filmte die Interviews der anderen Geflohenen. Die nächste machte Bleistiftzeichnungen von Fluchtszenen. Jede/r von ihnen brachte sich so mit seinen Kenntnissen, Fertigkeiten und Talenten ein.
„Genauso wichtig wie die Ausstellung ist daher ihr Entstehungsprozess“, sagt Jeanette Schindler. Die Journalistin aus Ingelheim am Rhein hat die Ausstellung zusammen mit Doaa Elsayed koordiniert. Ohne ein Missverständnis, das ganz am Anfang stand, gäbe es dieses Projekt nicht: Ursprünglich wollte Kunstdozentin Elsayed, die aus Ägypten stammt, in Ingelheim einen Handarbeitskurs für geflüchtete Frauen anbieten.
Als der Kurs begann, saßen im Raum auch Männer. „Weil sie gedacht hatten, es handele sich um einen Deutschkurs“, berichtet Kuratorin Elsayed. Also wurde aus dem ursprünglichen Kurs eine Gesprächsrunde. Während des mühseligen, aber intensiven Austausches über die Fluchterfahrungen lernten sich die KursteilnehmerInnen kennen und setzten sich gemeinsam zum Ziel, eine Ausstellung zu erarbeiten.
Bis zur Fertigstellung dauerte es ein Jahr. Es gab regelmäßige Treffen, immer mit ehrenamtlichen ÜbersetzerInnen. „Wir hatten ja keine gemeinsame Sprache“, sagt Jeanette Schindler. Der Gruppe fehlte noch etwas: Geld. Also fragte Dora Elsayed bei der Stadt Ingelheim an, die das Projekt finanziell unterstützte – wie auch das Land Rheinland-Pfalz und das Bistum Mainz. Die Summen reichten aber nicht aus, so dass weitere Unterstützer erforderlich waren. Doaa Elsayed, Jeannette Schilder und andere MitstreiterInnen warben daher um SponsorInnen und Spenden, gewannen viele Ingelheimer BürgerInnen und Firmen dafür, sich auf unterschiedliche Weise an der Umsetzung der Ausstellung zu beteiligen.
„Dass wir nicht genug Geld hatten, war rückblickend das das Beste, was uns passieren konnte“, sagt die 50-jährige Journalistin. Sie hat das Projekt in ihrer Freizeit als ehrenamtliche Integrationslotsin begleitet und dabei eine „ganz wichtige Erfahrung“ gemacht: „Ein gemeinsames Ziel bringt die unterschiedlichsten Menschen zusammen und einander nahe.“
Die Ausstellung wurde im vergangenen Herbst in Ingelheim gezeigt – in leerstehenden Räumen eines ehemaligen Möbelhauses - und erreichte innerhalb von vier Wochen rund 3.000 Besucher. Von dort zog sie nach Mainz und ist zwischen dem 18. März bis zum 29. Mai 2016 im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum zu sehen; ergänzt um die Geschichte eines weiteren Flüchtlings aus Mainz. Unter der Trägerschaft des Bistums Mainz wird sie nun als Wanderausstellung verliehen und soll in anderen Städten Deutschlands zu sehen sein – jeweils aktualisiert durch die Geschichte einer/s Geflüchteten, deren bzw. dessen Odyssee an diesem Ort endete.
Das Ausstellungsprojekt „Flucht 2.0 - An Odyssey to peace“ ist eines von zehn nominierten Projekten im Rahmen des Sonderpreises zur kulturellen Teilhabe geflüchteter Menschen. Der Preis wird zum Auftakt von „Kultur öffnet Welten“ am 21. Mai 2016 im Deutschen Historischen Museum vergeben.