boat people projekt: „Wir erlauben uns, kritisch hinzusehen“
Nominiert für den Sonderpreis für Projekte zur kulturellen Teilhabe geflüchteter Menschen
09.05.2016
Das freie Theater boat people projekt in Göttingen arbeitet bereits seit sieben Jahren zu Flucht und Migration und hat sich als Schnittstelle zwischen Kunst und Politik etabliert. Im Interview sprechen die Gründerinnen Luise Rist und Nina de la Chevallerie über die aktuellen Stücke mit geflüchteten Jugendlichen und KünstlerInnen aus Kriegsgebieten.
Von: Elisabeth Gregull
Frau Rist, bei der Gründung des boat people projekt zusammen Nina de la Chevallerie im Jahr 2009 ging es von Anfang an um die Themen Flucht und Migration. Wieso?
Wir hatten beide das Bedürfnis, stärker politisch mit Menschen zu arbeiten. 2009 gab es relativ viele Meldungen über Tote in Lampedusa. Wir fingen an zu forschen: Gibt es hier auch Flüchtlinge, die von dort kommen? Wir fuhren in die Heime, lernten die Menschen kennen und begannen, mit ihnen zu arbeiten. Das Thema ließ uns nicht mehr los.
Seither sind unter Ihrer Leitung zahlreiche Werke zu diesem Themenkomplex entstanden. Ihr aktuelles Stück „Flutlicht“ ist ein Liedprojekt mit Jugendlichen. Um was geht es?
Das Stück handelt von dem Wunsch, sich anzunähern - vor dem Hintergrund vieler traumatischer Vergangenheiten. Jugendliche aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia und Deutschland kommen zusammen. Musik spielte immer schon eine große Rolle in unseren Inszenierungen, wir entschieden uns diesmal ein komplettes Musiktheaterstück zu entwickeln. Unser Kollege Hans Kaul ist Komponist und Musiker. Er erarbeitete mit den Jugendlichen Lieder aus ihrer Heimat, und arrangierte die Songs für eine vierköpfige Band neu.
Die Jugendgruppe entstand beim Festival „Fluchtpunkt Göttingen“, bei dem ich mit einer Gruppe minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge ein Stück aufführte. Anschließend sind die Jugendlichen einfach bei uns geblieben und haben den Proberaum zu einem Ort ihres Ankommens gemacht. So ist das junge boat people projekt als zweiter Arbeitsbereich neben den Produktionen mit (erwachsenen) professionellen Künstlerinnen und Künstlern entstanden.
Wie verständigen Sie sich mit den Jugendlichen?
Manchmal halfen uns Dolmetscher, aber inzwischen übersetzen die Beteiligten selbst. An „Flutlicht“ nehmen rund 27 Jugendliche teil. Täglich kommen neue dazu, einige können noch kein Deutsch. Aber in das Stück kann man schnell hineinwachsen. Es gibt ein paar Texte und Bewegungsabläufe, bei denen man sich einfach einklinken kann. Der Zusammenhalt in der Gruppe ist besonders, das spürt man bei „Flutlicht“ als Zuschauer und als Mitwirkender.
Die persönlichen Schicksale der Jugendlichen spielen eine zentrale Rolle in Ihrer Arbeit. Das zeigte auch der Fall der 16-jährigen Anita Osmani. Bei der Premiere des Stücks im Dezember 2015 war sie noch dabei, nun ist sie von Abschiebung bedroht.
Anita Osmani begleitet uns schon sehr lange. Ihre Geschichte fließt in alle Stücke ein – in die neue Fassung von „Flutlicht“, auch in unser anderes aktuelles Stück „Eine Stadt verändert sich“. Mit Anita entstand schon 2012 ein Stück zum Thema Abschiebung. Ich habe einen Roman geschrieben mit ihrem Bild auf dem Cover. Er ist nach der Straße benannt, in der sie gelebt hat: „Rosenwinkel“. Sie hat mich außerdem auf die Lesungen begleitet. Diese Veranstaltungen funktionierten wie eine Art Schutzschild gegen die Abschiebung und es entstand ein großes mediales Interesse. Die ganze Jugendgruppe kämpfte für sie, wir waren sogar im Niedersächsischen Ministerium.
Was passierte dann?
Trotz des öffentlichen Drucks wurde die Abschiebung eingeleitet. Kurz bevor die Polizei in die Wohnung kam, tauchte die Familie unter. Eine Anwältin versucht nun, mit Hilfe eines großen Unterstützerkreises einen neuen Antrag zu stellen. Gerade werden viele Roma abgeschoben. Aufgrund ihres Engagements am Theater gibt es aber immerhin Leute, die sich für Anita einsetzen. Es war schrecklich für die Gruppe festzustellen, dass der Kampf vorerst vergeblich war. Die Jugendlichen aus Syrien und Afghanistan fragten alle: Wieso hast du keinen deutschen Pass?
Seit November 2015 proben Sie im ehemaligen Institut für wissenschaftlichen Film, das gleichzeitig als Flüchtlingsunterkunft genutzt wird. Kommen die BewohnerInnen auch zu Ihren Vorstellungen?
Ja, auf jeden Fall. Zu den Aufführungen haben sie freien Eintritt. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind grundsätzlich eingeladen, zu den Proben zu kommen. Mittlerweile haben wir ein Stammpublikum, das sehr gemischt ist: Studierende, aber auch ältere Leute, Menschen mit Migrationshintergrund, viele Menschen, die oft ins Theater gehen. Sie finden den Ort speziell. Es ist alles eng beieinander. Wir haben einen eigenen Eingang, aber alle nutzen die Toiletten der Bewohnerinnen und Bewohner. Man hat viele Berührungspunkte dadurch, dass die Geflüchteten so präsent sind.
Frau de la Chevallerie, eines Ihrer aktuellen Stücke heißt „Eine Stadt verändert sich“. Worum geht es?
Die Idee ist vor über einem Jahr entstanden. Wir haben uns gefragt: Für wen hat sich was wirklich in der Stadt verändert? Und wie können wir das Neue auf der Bühne sichtbar machen? Die Konstellation ist besonders, weil wir mit dem Schauspieler Rzgar Khalil zusammenarbeiten, einem Kurden aus Syrien. Er ist erst seit fünf Monaten in Deutschland.
Welche Perspektive bringt Rzgar Khalil in das Stück?
Am Anfang ist er sehr passiv. Er wird eher als Reibungsfläche benutzt von den beiden SchauspielkollegInnen, als Projektionsfläche. Schließlich erkämpft er sich mehr und mehr Raum, um seine Situation und das, was er erzählen will, zu präsentieren. Es geht in seiner wichtigsten Szene – seinem großen Monolog – um die Situation der Geflüchteten, wenn sie hier ankommen: um den Heimatverlust. Das ist das ganz große Thema.
Das Besondere an diesem Stück ist, dass Rzgar Khalil an den Texten mitgearbeitet hat. Wie haben Sie sich verständigt?
Rzgar Khalil schrieb die Texte auf Arabisch. Per Google-Übersetzer und mit Hilfe eines Übersetzers wurden sie ins Englische übertragen. Anschließend ging ich Satz für Satz mit ihm durch die Texte, um zu verstehen, was er genau auf Englisch meint und habe sie ins Deutsche übersetzt. Diese Fassungen übersetzten ihm Freunde wieder ins Arabische, um zu prüfen, ob der ursprüngliche Sinn erhalten blieb.
Man hätte das bestimmt auch einfacher haben können. Aber zum einen sind Dolmetscherinnen und Dolmetscher hier gerade extrem ausgebucht. Zum anderen fand ich den Prozess gut, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch um zu erfahren, was sich der Andere wirklich vorstellt. So haben wir uns einander angenähert.
Das Stück beleuchtet die Veränderungen in Göttingen aus der Sicht der Geflüchteten und aus Sicht derer, die schon vor Ort sind. Wie ist denn die aktuelle Situation?
In Göttingen wird die Wohnungssituation diskutiert, auch weil wir eine Studentenstadt sind. Als ich den Antrag auf Projektförderung stellte, hieß es, 250 Geflüchtete kommen nach Göttingen; das war schon ein Problem damals. Heute erwartet man noch weitere 1.000 Menschen in diesem Jahr. Es werden fünf neue Wohnheime gebaut, was unterschiedliche Reaktionen hervorruft.
Zum anderen gibt es hier eine enorme Anzahl an ehrenamtlichen Initiativen. Die Stadt stellte sofort einen Koordinator für ehrenamtliche Arbeit ein. Dieses Thema beschäftigt uns sehr, darauf bezieht sich die nächste Produktion im Sommer. Wer hilft eigentlich wem? Welches Verhältnis baut man auf? Wir erlauben uns, kritisch hinzusehen.
Das boat people projekt ist eines von zehn nominierten Projekten im Rahmen des Sonderpreises zur kulturellen Teilhabe geflüchteter Menschen. Der Preis wird zum Auftakt von „Kultur öffnet Welten“ am 21. Mai 2016 im Deutschen Historischen Museum vergeben.