Urteilen Sie selbst: Vom Öffnen und Schließen von Welten
13.06.2016
Wie lässt sich erkennen, ob ein Projekt der Kulturellen Bildung gegenwärtig dazu beiträgt, die Gesellschaft und insbesondere das kulturelle Feld zu öffnen? Ein Essay von Carmen Mörsch, Leiterin des Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste.
Von: Carmen Mörsch
„Kultur öffnet Welten“ als Titel einer landesweiten Initiative zu lesen, produziert bei mir Frage: Wer meint das von welcher SprecherInnenposition aus zu wissen? In wessen Interesse wird es postuliert? Welche Phantasien setzt das Postulat bei wem in Gang?
„Kultur“ steht zumindest im Alltagsverständnis des Globalen Nordens für die Unterscheidung weißer bürgerlicher Lebensstile vom Rest und wird damit als überlegen („kultiviert“) und dem Rest zur Orientierung dienend („Leitkultur“) gesetzt . Das Konzept wurde seit dem 18. Jahrhundert für das national-identitäre Selbstverständnis einer vom Adel unabhängig werdenden, besitzenden Schicht im Sinne einer ästhetischen KennerInnenschaft in Anschlag gebracht.
Damit aufs Engste verschränkt, wurde es für ein kolonial und rassistisch geprägtes Weltverständnis im Sinne von „eigener“ und „fremder“ Kultur verwendet. Beide Abgrenzungsfunktionen von „Kultur“ sind in den heutigen Verwendungen des Begriffs wirkmächtig: die zwischen gesellschaftlichen Schichten und die, welche das vermeintlich „Eigene“ und das vermeintlich „Fremde“ festzuschreiben und voneinander hierarchisch zu unterscheiden suchen - genauso wie Kapitalismus und Kolonialismus, die für die Entstehung des Konzeptes den Rahmen bildeten.
Exklusive Künste
Dies illustrieren auch Erkenntnisse aus einem sich international etablierenden Forschungsbereich, der sich mit den Ein- und Ausschlussmechanismen in der Ausbildung an Kunsthochschulen und in den Kulturberufen beschäftigt. Egal in welchem (europäischen und nordamerikanischen) Land und in welcher künstlerischen Disziplin unternommen, verweisen entsprechende Studien auf ähnliche Probleme: Kein anderes gesellschaftliches Spielfeld ist so exklusiv wie die Künste.
Für wen sich darin Welten öffnen und wer als WächterIn an deren Türen steht, entscheidet sich im Rahmen komplexer Selektionsprozesse (ich verwende hier absichtlich dieses unappetitliche Wort). Das Zusammenwirken der mit den Kategorien Race, Class, Gender, Ability und Age verbundenen, machtvollen Zuschreibungen strukturiert diese Auswahlprozesse. Ausgerechnet der Bereich also, in dessen Selbstverständnis es stets nur um „Talent“, um die Entfaltung von Persönlichkeiten und die Förderung von Begabungen geht, ist in allerhöchstem Maße von sozialer Reproduktion und von Erfahrungen diskursiver Gewalt geprägt.
Oder, wie Grayson Perry, Künstler und Patron des britischen National Arts Learning Network ironisch bemerkt: „Artistic talent is hard to spot in young people but you can be damn sure that, two parents, a white skin, nice middle class manners and four A-levels are not very reliable indicators.“
Treppen, Leitern, gläserne Decken
Das Öffnen von Welten bildet in den Aushandlungs- und Herstellungspraxen von „Kultur“ also bis dato die Ausnahme – zumindest wenn es um mehr geht als zu konsumieren oder mal mitzumachen. Wenn ernstzunehmende Öffnung stattfindet (und das heißt bei einem so begehrten Bereich, dass jemand Platz machen müsste), so geschieht dies aufgrund der Mobilisierung der Ressourcen derer, die in diesen Welten nicht vorgesehen sind.
Sie unternehmen große individuelle und kollektive Anstrengungen, um zuweilen – und in einigen urbaneren Gegenden auch immer öfter – hineinzukommen. Wenn sie hineingekommen sind, dann geschieht zweierlei: Zum einen geht der „Spaß“ des sich Hineinreklamierens drinnen weiter. Viele Türen innerhalb der Kulturwelten erweisen sich als Ausgänge, Treppen und Leitern, die an gläserne Decken stoßen.
Zum anderen ist es genau ihr Beharren, das Welten öffnet, und zwar für die Kultur – es bedeutet eine zunächst unbequeme, doch am Ende für den eigenen Mehrwert dieses „preserve of the privileged“ gut verwendbare Horizonterweiterung.
Regelüberschreitungen
Soweit das Sprechen von Herrschaft. Doch bereits bei ihrem begrifflichen Aufkommen gehörten „Kunst“, „Geschmack“, „Kultur“ niemals nur einem Teil der Gesellschaft. Karnevalistische Überschreitungen und Satire, Aneignungen und Umarbeitungen, politische Interventionen und Allianzen sorgten genauso wie philosophische Debatten dafür, dass die Grenzen zwischen elitär und populär von Beginn an niemals ganz scharf gezogen werden konnten.
Im Gegensatz zu Herrschaft ist Macht überall vorhanden. Und so war und ist Kultur zwar keine Weltenöffnerin per se, aber doch immer wieder dafür gut, Unschärfen und Regelüberschreitungen zu ermöglichen, sowie Raum für Existenzen und Artikulationen jeweils der gerade gültigen Normalität zu schaffen. Kultur diente und dient nicht nur für die Befriedung sozialer Spannungen im Interesse von Privilegierten, nicht nur zum Verweis auf die angestammten sozialen Plätze. Kultur ist auch Vehikel für soziale Mobilität und dient als Raum zur Selbstermächtigung und als Schauplatz und Instrument für soziale Kämpfe.
Konflikthafte Praxis
Die europäischen Bewegungen der Arbeiterbildung, die im anglophonen Raum aus der Erwachsenenbildung und den Bürgerrechtsbewegungen heraus entstandenen „Cultural Studies“, die sich gegen die „musische Bildung“ abgrenzende „kulturelle Bildung“ in der BRD, die lateinamerikanische Befreiungspädagogik oder die Widerstandsbewegungen der Dekolonisierung und der Indigenen prägten und prägen einen erweiterten Kulturbegriff, der in die Praktiken eines bürgerlich-westlichen Verständnisses von Kultur interveniert und sie herausfordert.
Dabei wird das Widerstandspotential immer wieder von diesem Verständnis einverleibt, um sich ebenso regelmäßig im Zeichen der Unverdaulichkeit zu erneuern. Kultur so verstanden, soll den Kampf gegen Ungleichheit unterstützen und Privilegien umverteilen, anstatt diese zu bestätigen und zu reproduzieren. Unverzichtbar für dieses Verständnis waren und sind Perspektiven aus dem Globalen Süden.
Mitunter ereignet sich eine praktische Öffnung des Kulturbetriebs, was dem Insistieren von Ausgeschlossenen zu verdanken und daher kaum eine großzügige Geste derjenigen ist, die ihn regulieren. So ist der Kulturbegriff in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch postkoloniale Interventionen verunsichert und erneuert worden. Kultur in dieser Perspektive ist konflikthafte Praxis, ist Prozess – etwas, das innerhalb von historisch gewachsenen Verhältnissen kontinuierlich sozial hergestellt wird. Kultur ist also weder etwas das man hat, noch etwas, das von alleine etwas könnte – zum Beispiel Welten öffnen. Sondern sie bedeutet ein Ringen um Positionen, bei dem Welt gemacht wird.
Förderkriterien
Auf der Basis eines Verständnisses von Kultur als konflikthafte Praxis des kollektiven Weltmachens reflektiere ich die gegenwärtigen Entwicklungen in der kulturellen Bildung und der Kunstvermittlung in Deutschland. Es handelt sich um einen Bereich, dessen Aushandlungsprozesse ich als Forschende und Schreibende und durch eine institutionelle Praxis aus einer gewissen Distanz heraus, welche nicht zuletzt der Standort im Nachbarland mit sich bringt, mitgestalte. In den letzten zwei Jahrzehnten sind in diesem Feld mehrere Tendenzen unübersehbar:
Die kulturpolitische Betonung von Vermittlung als Kriterium für Förderentscheide. Die Zunahme der Fördermöglichkeiten für kulturelle Bildung und Kunstvermittlung, nicht zuletzt durch das wachsende Engagement privater Stiftungen. Damit einhergehend, die Etablierung des Bereichs als Forschungsfeld, mehr Selbstreflexion, Theoriebildung und Historisierung.
All dies sind Anzeichen von wachsender Mehrheitsfähigkeit und Institutionalisierung, sprich, Hegemonialisierung. Gleichzeitig zeigt sich eine starke Fokussierung des Arbeitsfeldes auf migrationsgesellschaftliche Themenstellungen. Die geht mit einer starken Zunahme von Projekten der kulturellen Bildung und Kunstvermittlung im Kontext von Flucht einher.
Bei diesen miteinander verschränkten Entwicklungen lassen sich unterschiedliche Positionierungen herauskristallisieren, die analog zum Kulturbegriff zwischen Hegemonie und Gegenhegemonie lokalisierbar sind. Ich vollziehe daher noch einmal die gleiche Bewegung wie beim Kulturbegriff und beschreibe das Geschehen zunächst unter dem Aspekt der Herrschaft und anschließend in der Perspektive der Gegenbewegungen.
Befriedung sozialer Spannungen
Der größere Teil der Praxisförderung fließt in Projekte zur Legitimation und Reproduktion des bestehenden – wie beschrieben, hochgradig exklusiven – Kulturbetriebs, in dem die AkteurInnen der Vermittlung in erster Linie darum bemüht sind, das „Publikum von Morgen“ herzustellen und dafür Sorge zu tragen, dass die von Pierre Bourdieu als solche bezeichnete „Liebe zur Kunst“ niemals ganz versiegt. Institutionskritische Perspektiven oder Projekte, die an der Veränderung von Strukturen und Mechanismen des Betriebes selbst interessiert sind, bilden die Ausnahme.
Der größere Teil der Forschungsförderung wiederum fließt in Projekte, welche die im hegemonialen Sinne positiven „Transferwirkungen“ von kultureller Bildung bestätigen sollen. Transferwirkungen beziehen sich dabei häufig auf sogenannte Softskills und die durch sie hergestellten sozialen Zusammenhalt. Dadurch erscheinen kulturelle Bildung und Kunstvermittlung wie schon zur Zeit ihrer Entstehung als Instrument zur Befriedung sozialer Spannungen mit dem Ziel Privilegien zu erhalten.
Projekte im Kontext Flucht und Migration
Viele Projekte im Kontext Flucht werden von mehrheitsangehörigen Kulturschaffenden gestaltet, welche die Verwendung der Ressourcen, die Inhalte, die Praktiken und die Repräsentationen kontrollieren. Die Förderlogiken drängen institutionelle Akteure in die Arbeit mit Geflüchteten, die nicht über das geringste Wissen zu Antidiskriminierung oder Dekolonisierung verfügen. Die Förderstellen erwarten ein Engagement in diesem Feld, ohne dafür Sorge zu tragen, wie und vor allem unter welcher Beteiligung dieses Wissen aufgebaut werden könnte. Refugees ist darin der Platz von hilfebedürftigen, in Konzepte von Kultur zu integrierenden Anderen zugewiesen.
Der größere Teil von Projekten mit migrationsgesellschaftlichem Fokus wiederum wird ebenfalls von Mehrheitsangehörigen vorangetrieben, die sich über als migrantisch markierte Teilnehmende freuen, aber die Jobs im Kulturbetrieb gerne weiterhin selbst besetzen wollen: Die Forderung „MigrantInnen ins Museum“ beispielsweise meint in der Regel nicht das DirektorInnenzimmer. Auch in der deutschen Kunstpädagogik ist das Thema „Transkulturalität“ oder „Kulturelle Vielfalt“ in den letzten zehn Jahren von weißen mehrheitsangehörigen Fachleuten entdeckt worden, die sich damit profilieren und akademische und politische Positionen besetzen.
Gleichzeitig sind Förderung, Forschung und Praxis in der Kulturellen Bildung und Kunstvermittlung wiederum auch Felder für gegenhegemoniale Praktiken der Aneignung, Verschiebung und Umarbeitung. Es mehren sich die Initiativen, Projekte, Vernetzungsforen und Organisationen, in denen die seitens der Mehrheitsgesellschaft als Problem markierten Gruppen Regie führen. Ihre meist prekären Arbeitsbedingungen sprechen für sich; sie mindern jedoch nicht die transformative Wucht der Unterbrechungsleistung, die sie für den Kulturbetrieb erbringen. Gleichermaßen entstehen Forschungsaktivitäten; das daraus resultierende Wissen formuliert (und verkompliziert) die Fragen und bestimmt die Forschungsethik.
Kultur öffnet Welten?
Vertiefe ich mich in die Onlineplattform von „Kultur öffnet Welten“ genauer, dann offenbart sie sich mir als Abbild des aktuellen Status quo des Spielfeldes, in dem das beschriebene Ringen um Hegemonie stattfindet. Widersprüchliche Diskurse und Praktiken stehen dort nebeneinander, es gibt sozusagen „für jede_n etwas“. Was mir persönlich fehlt, ist eine Positionierung der MacherInnen, die genau dieses Moment der Abbildung eines gegenwärtigen Ringens klar benennen würde. So bildet die Initiative selbst ein Symptom für das Spannungsverhältnis von Vereinnahmung und Weltenöffnung.
Die Mikropraktiken in jedem Unternehmen von Kunstvermittlung und kultureller Bildung sind komplex und widersprüchlich, und ein Text wie dieser bedeutet gegenüber dieser Komplexität zwangsläufig eine ungeheuerliche Verkürzung. Dennoch behaupte ich, dass relativ einfach zu erkennen ist, ob ein Projekt der kulturellen Bildung und Kunstvermittlung gegenwärtig Welten macht, welche die Gesellschaft und insbesondere das kulturelle Feld öffnen helfen.
Ich beschließe diesen Text versuchsweise mit der Aufzählung von vier dazu geeigneten Kriterien. Das Wissen, das diesen Kriterien unterliegt, ist wiederum durch die erwähnten Praxen der Selbstermächtigung und Selbstartikulation von minorisierten WeltenmacherInnen entstanden:
1. "Nothing about us without us": in den Projekten sind die im kulturellen Feld nicht Vorgesehenen die Akteure. Sie kontrollieren die Inhalte, Formen, Ressourcen und Repräsentationen. Das heisst, sie entscheiden auch selbst, ob, wie und von wem sie dargestellt werden.
2. Beteiligte Mehrheitsangehörige arbeiten in den Projekten nachweislich an einer aktiven Umverteilung von Mehrwert und Privilegien.
3. Wissenschaftliche Begleitung oder formative Evaluation unterstützt die Herstellung von Zeit und Raum für eine kritische Reflexion und Bearbeitung der jedes Projekt durchziehenden Machtverhältnisse. Wobei diese kritische Reflexion nicht in Lähmung resultiert und dadurch selbst zum Alibi für den Erhalt von Privilegien führt.
4. Findet das Projekt in einer Kulturinstitution statt, so trägt es dazu bei (zum Beispiel, indem es dies zur Bedingung macht), dass sich Diversifizierung von Strukturen wie zum Beispiel Personalzusammensetzung, Programmierung oder Curricula ereignet, nicht nur von Sichtbarkeiten im Werbematerial.
Urteilen Sie selbst.