Vom Überleben
28.07.2016
In der Ausstellung „daHEIM“ in Berlin erzählen Geflüchtete ihre Geschichten, begleitet von Zitaten von Anna Seghers.
Von: Katrin Bettina Müller
Ein Kreis für das Gesicht, ein Rechteck für den Torso, Strich, Strich, Strich, Strich für Arme und Beine, so zeichnet Yasir Sultan Abdelkadir eine Figur. Und noch ein paar Punkte für den Ausdruck im Gesicht – ängstlich, erschrocken? Mit unzählbar vielen dieser Strichmännchen hat der junge Mann, der im Irak einmal als Industriesticker gearbeitet hat, eine Museumswand in Berlin-Dahlem bevölkert, alle in Schach gehalten von einem großen, bewaffneten Mann.
Yasir Sultan Abdelkadir lebt in einem Wohnheim für Asylsuchende in Berlin-Spandau. In seinem Zimmer hat er eine Wand rosa bemalt, um nachts, in schlaflosen Nächten, etwas vor Augen zu haben, das er beruhigend findet. Im Museum aber hat er sein Trauma an die Wand gezeichnet. Er lebte in Mossul und wurde, als die Stadt vom sogenannten Islamischen Staat eingenommen worden war, verhaftet und gefoltert. Dass bei Hinrichtungen die Bevölkerung zusehen musste und muss – diese Grausamkeit – hat er in seinem Bild festgehalten. Und er fürchtet jeden Tag um seine Familie, die dort noch lebt. „In the middle of nowhere“, so fühlt er sich.
„Kunstasyl“ ist vielfältig
Im Wohnheim in Spandau begann im Februar 2015 Barbara Caveng, eine Deutsch-Schweizer Künstlerin, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in vielen kleinteiligen Projekten zu arbeiten. Sie schufen in einem Bauwagen ein kleines Museum mit Erinnerungsstücken für Abgeschobene, sie bauten Möbel für den Vorplatz, legten Beete an, hinterfragten in Fotoaktionen die Typisierung der Bilder von Geflüchteten.
Teil des „Kunstasyl“, so der Titel des Projekts, war von Anfang an Aymen Montasser, ein junger Architekt aus Tunesien, und bald auch Dachil Sado aus dem Irak. Mittlerweile ist Dachil Kunststudent in Weißensee und einer der Kuratoren der Austellung „daHEIM: Einsichten in flüchtige Leben“, die im Museum Europäischen Kulturen am 21. Juli eröffnet wurde. Viermal die Woche ging er in den vergangenen fünf Monaten nach seinem Deutschkurs entweder in das Wohnheim in Spandau oder ins Museum in Dahlem, um das große Gemeinschaftsprojekt der Ausstellung zu organisieren.
Zwischen Individuum und Masse
„Das ist so erstaunlich“, sagt Dachil, „dass wir diesen Raum gemeinsam gestalten können, obwohl wir doch alle so unterschiedlich sind, so verschieden im Glauben, so unterschiedliche Erfahrungen haben.“ Er hat das Logo für „Kunstasyl“ entworfen, einen großen Daumenabdruck, der von einer Figur auf dem Rücken getragen wird – schwer wie ein Fels, so scheint es. Das Logo spielt auf die Belastung an, als „Flüchtling“ identifiziert und kategorisiert zu werden.
An Dachils Wand im Museum ist auch ein kleiner Daumenabdruck aus Blut. „Printing with blood“, erklärt er mir, nannte man in Syrien die erzwungene Abstimmung bei einer Wahl für den Diktator Hafiz Al-Assad. Die Spannung zwischen dem Wunsch, als Individuum gesehen zu werden und als Individuum freiheitliche Rechte zu genießen, und dem eingeordnet werden in eine anonyme Masse, ist prägend für die Ausstellung.
Serxhio Sulaj, 17 Jahre alt und aus Albanien, hat auf die Rückseite einer Wand, die vorne mit Dokumenten des LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) beklebt ist, die Schlange der Wartenden gezeichnet, die sich hinter dem Gebäude anstellen müssen. Dicht drängen sie sich, dichte schwarze Schatten, bis eine Bewegung wie eine Welle in sie hineingreift und sie hoch durch die Luft wirbelt. Das ist unschwer zu lesen als die Erinnerung an das Meer, in dem so viele ertrunken sind. Aber auch die abwertende Metapher von der „Flut der Flüchtlinge“ wird wachgerufen.
Geflüchtete repräsentieren sich selbst
Seit März 2016 wird an der Ausstellung in den Räumen des Museums und auch im Heim gearbeitet. Einige, die anfangs dabei waren, sind inzwischen abgeschoben, andere konnten Wohnungen beziehen und machten weiter mit. Man kann sich vorstellen, dass der Weg vom Stadtrand Spandau ins gutbürgerliche Dahlem, wo die Museen zwischen Universitäts-Instituten in alten Villen liegen, ein wohltuender Ortswechsel war.
Den Museumsraum nutzen zu können, bedeutet viel. Hier repräsentieren sich die Geflüchteten – über 100 haben mitgearbeitet – selbst und stehen zugleich für einen Teil europäischer Geschichte, der jetzt geschieht. Und ganz konkret, boten die Museumsräume auch eine andere Art von Aufgehobensein: Barbara Caveng erinnert sich an einen Syrer, der, vor Sorgen um seine Familie in Aleppo, nicht schlafen konnte. Im Museum konnte er plötzlich schlafen, während andere um ihn herum arbeiteten.
Das war möglich, weil Betten im Museum waren. Denn Bettgestelle aus Wohnheimen sind das Material, aus dem einige Installationen gebaut wurden. Wie ein Zaun um ein Flüchtlingslager, an dem die Bewohner mangels anderer Möglichkeiten ihre Kleider aufhängen; ein schaukelndes Boot; ein Verhau aus Gittern, in dem Fotografien an das erinnern, was die Geflüchteten verlorenen haben - ihr zu Hause, ihren Alltag. Ein Dach über dem Kopf als Bild für das „daHEIM“ taucht mehrfach in der Ausstellung auf.
Ein Dach über dem Kopf
Bereket Kibrom hat ein Dach aus Weiden und Stroh gebaut, in Originalgröße, wie er es in Eritrea für viele Familien gebaut hat. Er ist vor einer Diktatur geflohen, die ihn zum lebenslangen Militärdienst verpflichten wollte. Er hat nicht nur den „Adego“ gebaut, der jetzt vor dem Museum steht, sondern sein Wissen um die Technik auch in einem Workshop vermittelt.
Das zweite Dach in der Ausstellung ist gar keines mehr: Verkohlt sind die Dachlatten in einem Giebel aus Bettgestellen. Es könnte auf das Haus von Zineta Jusic verweisen, die vergangenen April nach Bosnien abgeschoben wurde. Von dort war sie 2012 geflohen nach einem Brandanschlag auf das Haus ihrer Romafamilie. Sie schickte nach der erzwungen Rückkehr Fotos, auf denen die verkohlten Dachlatten ihres Hauses noch immer in den Himmel ragten. All diese Geschichten sind erschreckend und haben doch viele Parallelen in der Vergangenheit.
Durch die Zeichnungen der HeimbewohnerInnen winden sich an den Museumwänden Sätze aus Anna Seghers Roman „Transit“, über ihre Flucht aus Nazideutschland 1933. Was sie erzählte, klingt für die AusstellungsteilnehmerInnen oft wie ein Echo auf die eigene Geschichte. „Sofort gab es eine Schlange von Menschen, die alle hofften, gerade mit diesem Schiff unseren Erdteil zu verlassen, ihr bisher gelebtes Leben“ schrieb Anna Seghers. Sie haben nicht nur Anna Seghers gelesen, sondern auch Dante. Bilder von William Blake und Hokusai betrachtet.
Hunger nach Bildung
Wenn Barbara Caveng von der langen Vorbereitungszeit der Ausstellung erzählt, scheint dabei auch ein Motiv der Geflüchteten auf, das in der Debatte um Flucht selten auftaucht: Bildungshunger, oft eng verknüpft mit der verweigerten Freiheit in den Herkunftsländern. Es ist überraschend, aber es gibt in der Ausstellung auch viele tröstende Zitate der TeilnehmerInnen, in denen sie ihr Hiersein als Glück empfinden. Manche davon sind berührend poetisch: „I looked up at the stars and somewhat comforted – I don’t know why – thought that these stars were there for me and people like me rather than for those who where now turning on the lights.”
Der Artikel erschien zuerst in taz, die tageszeitung vom 21. Juli 2016.