Von der Fähigkeit des Zuhörens
20.09.2016
„Migration und Rassismus sind historisch ganz konkret verschränkt“. Dieses ernüchternde Statement führt die Migrationsforscherin Nanna Heidenreich nicht zur Resignation, sondern zu einem Ansatz, der sich auf praktischer Ebene mit strukturellen gesellschaftlichen Herausforderungen beschäftigt: In ihrem dreiteiligen Projekt „Tonspuren“ setzt sie auf KünstlerInnen, die nicht Porträts von Geflüchteten zeichnen, sondern die Zusammenarbeit ins Zentrum ihrer Arbeit rücken.
Von: Elisabeth Wellershaus
Es liegt natürlich auf der Hand – und dennoch: Warum gerade jetzt ein Projekt zum Thema Migration und mit Geflüchteten?
Es ging mir und dem HKW nicht darum, nach dem „Sommer der Migration“ in Aktionismus zu verfallen. Die drei Projekte, die wir im Rahmen von „Tonspuren“ zeigen, tun nicht so, als wären die Geflüchteten urplötzlich und über Nacht aufgetaucht. Viel mehr interessiert mich als kritische Migrationsforscherin der Langzeitansatz; Projekte und Aktionen, die nur im akuten Moment wirken, machen mich skeptisch, denn sie greifen zu kurz. Andererseits denke ich, dass man den Moment nutzen sollte, in dem auf einmal so viele Menschen offen sind für die Auseinandersetzung mit Migration. Plötzlich werden Namen in den Medien richtig ausgesprochen, lassen sich ÜbersetzerInnen und ExpertInnen zu Themen finden, die bis vor Kurzem noch auffällig unterrepräsentiert waren. Es scheint, als könnten Diskussionen endlich neu angestoßen werden. Deshalb ist es auch so wichtig, dass unsere Projekte sensibel in diesem Spannungsfeld platziert sind.
Es sind Filme und Hörinstallationen, die mitunter stark dokumentarisch ausgerichtet sind. Wie gelingt es, dass die beteiligten Geflüchteten dabei wirklich ihre eigene Stimme behalten?
In stetiger Auseinandersetzung. Das Projekt über die Gärtnerei auf dem Jerusalem-Friedhof, wo Geflüchtete, AktivistInnen und ExpertInnen zusammenarbeiten, ist ein gutes Beispiel. Denn es gab einen Moment, in dem einige Mitwirkende sich tatsächlich wie Ausstellungsstücke fühlten. In den dokumentierten Gesprächen von Constanze Fischbeks Video-Parcours Terra Nova – Preview zeigt sich denn auch, wie wichtig die Verhandlungen über Selbstbestimmung und die so oft existenziellen Probleme der Beteiligten sind. Der begleitende Blick der Kamera sichert hoffentlich nicht nur den FilmemacherInnen ihr Material, sondern ermöglicht vielleicht auch den urbanen GärtnerInnen neue Perspektiven auf ihre Situation – und auch den Menschen, die um den Friedhof herum leben, die durch die Dokumentation in die Diskussionen einsteigen können.
Aber die Grundproblematik bleibt: dass Geflüchtete derzeit immer wieder für Kunst- und andere Projekte instrumentalisiert werden.
Die Produktion von kulturellem Kapital ist ein Problem, das steht außer Frage. Deshalb ist es ja so wichtig, Viktimisierung zu vermeiden und Leute nicht auszustellen. Die Beteiligten bei „Tonspuren“ sollen nicht als Repräsentanten einer bestimmten Problematik vorgeführt werden. Mich interessiert die Normalität des eigenen Lebens, die Auseinandersetzung damit, wie viel man von sich preisgibt. Bei der Zusammenarbeit zwischen dem Filmemacher Philipp Scheffner, Colorado Velcu und seiner Familie, die vor Kurzem nach Deutschland kam, stand genau das im Mittelpunkt. Es war ein langer Weg der Annäherung, die bereits über einen anderen Film entstand. In Revision hatte Scheffner den Tod von Velcus Vater an der deutsch-polnischen Grenze aufgerollt, der in den 90er-Jahren bei einem angeblichen Jagdunfall umgekommen war. Die berechtigte Reserviertheit der Velcus löste sich erst, als Scheffner und die Familie ihre gemeinsame Liebe zum Bollywood-Film entdeckten. Von da an hat vor allem Colorado die Richtung der Kamera und die Art der Aufnahme mitbestimmt. Im aktuellen Film And-Ek Ghes… hat er seinen Blick und seine Vorstellungen von Inszenierung dann noch stärker eingebracht.
Am Ende war es also eine Art Co-Regie?
Eigentlich war es das von Anfang an, Philipp macht mit seinen Filmen grundsätzlich Verhandlungsräume auf. And-Ek Ghes… begleitet die Ankunft der Familie Velcu in Deutschland, aber es ist ein gemeinschaftlicher Prozess. Einer, der viel mit der Auseinandersetzung innerhalb des autobiografischen, ethnografischen und dokumentarischen Films zu tun hat. In der Regel ist es doch so, dass, wenn ein Roma einen Film macht, alles gleich zugestellt wird von verschiedensten Projektionen. Aber dieser Film zeigt etwas anderes. Es ist ein sehr persönliches Porträt über Colorados Leben als alleinerziehender Vater, über seine Frau, die in Rumänien im Gefängnis sitzt, die verschiedenen Organisationsweisen einer Familie, die über viele Länder verteilt lebt.
Es geht vermutlich auch darum, gewisse Ausgrenzungserfahrungen sichtbar zu machen?
Das ergibt sich bei dieser Geschichte leider ganz von selbst. Auch wenn es im Film eher um das Recht auf die eigene Geschichte geht, um die Kunst des Erzählens. Aber es wird auch deutlich, dass Roma und Sinti – oftmals BürgerInnen der EU – noch immer kaum Rechte haben. Es ist ein riesiger Skandal, dass sie noch immer in den Zustand der Abschiebbarkeit versetzt werden. Dass ihnen auf dem Papier Rechte zustehen, zu denen sie praktisch keinen Zugang haben. Im Film wird das auch über den schwierigen Zugang zu Schule und verschiedenen anderen Institutionen thematisiert. Es geht also sehr wohl um Ausgrenzung, oder anders – um eine Politisierung des Ankommens. Denn das bedeutet mittlerweile ja für ganz viele nicht mehr einfach: ankommen und bleiben. Filme wie dieser können also vielleicht ein Stück weit vermitteln, wie wichtig es heute ist, in solch transnationalen Bezügen zu denken.
Ist es in diesem Zusammenhang auch wichtig, das Thema Rassismus mitzudenken und zu benennen?
Unbedingt! Noch in den 90er-Jahren war es so, dass man selbst innerhalb der Universitäten erklären musste, dass Rassismus überhaupt ein wichtiger Begriff ist. Es hat sich seither einiges verändert, aber angesichts der rassistischen Gewalt dieser Tage scheint es bei Weitem nicht genug. Dabei sind Migration und Rassismus historisch ganz konkret verschränkt. Und es gibt noch immer so viele Alltagsbeispiele. Allein bei all den vielen Kindern mit nicht-biodeutschen Namen, die keine Gymnasialempfehlung erhalten. Das Schlimme ist, dass die Betroffenen auch heute noch denken, sie seien Einzelfälle. Denn wenn Rassismus als Thema überhaupt adressiert wird, dann fast ausschließlich im sozial-psychologischen Kontext – als Haltungs- und persönliche Problemfrage. Aber nicht als strukturelles gesellschaftliches Problem.
Wie Sie sagen, gibt es übergreifende historische Zusammenhänge. Passt Ihr Ansatz damit auch in den Rahmen des Projekts 100 Jahre Gegenwart?
Ich denke schon, denn letztlich geht es mir in diesem Projekt eben auch um Kontinuitäten von Gegenwart und Vergangenheit. Darum, dass es eine aktive Verdrängungsleistung ist, wenn wir die akute Migrations-Situation als Überraschung wahrnehmen. Dass wir noch immer glauben wollen, mit dem 20. Jahrhundert die großen globalen Konflikte überwunden zu haben. Denn Fakt ist, dass die Verhältnisse derzeit so schlimm sind wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts, nur anders konfiguriert: die Frage der Ungleichheit, die der geopolitischen Verwerfungen, der Kriege und Bürgerkriege. Der historische Bezug bedeutet für mich deshalb auch, den Fokus auf die Möglichkeitsräume der Gegenwart zu lenken – die Chance zu nutzen, anders zu denken, neue und unterschiedliche Perspektiven wahrzunehmen.
Ist es das, was die drei „Tonspuren“-Projekte verbindet?
Nicht nur. Ein verbindendes Element ist auch die Auseinandersetzung mit dem Zu-Hören. Julia Tiekes Arbeit Achtung Aufnahme ist ja ein Hör-Spiel, in dem es um die Vielstimmigkeit in unserer Gesellschaft geht und die Frage danach, wessen Erzählungen derzeit medial wahrgenommen werden und welche nicht. Die Arbeiten von Philip Scheffner sind ohnehin vor allem von seiner Fähigkeit des Zuhörens geprägt. Und auch in Constanze Fischbecks Videos geht es letztlich um das Ins-Gespräch-Kommen. Darum, sich im Gespräch zu verorten. Um die Politisierung des Zuhörens.