„Die lebende Bibliothek“: Sprich mit deinem Vorurteil!

Nominiert für den Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ 2017

06.04.2017

Mann unterhält sich, daneben Schild "Leseraum"
Die lebende Bibliothek in Düsseldorf, August 2016| Foto: Caritas

Jeder Mensch hat eine Geschichte, die es lohnt, erzählt zu werden: Aus diesem Grundgedanken macht „Die lebende Bibliothek“ ein Begegnungsprojekt der besonderen Art.

Von: Dalia El Gowhary

Dietmar hat Platz genommen. Um den 60-Jährigen sitzen fünf SchülerInnen, schauen sich gegenseitig etwas verlegen an und schweigen. Es liegt Frühling in der Luft über der Gesamtschule im nordrhein-westfälischen Hennef. Die SchülerInnen der 10. Klasse haben sich auf diesen Tag gut vorbereitet. Statt Religionsunterricht gibt es heute einen Plausch mit Büchern aus der „Lebenden Bibliothek“.

Fragen stehen auf dem losen Papier, das die jungen Leute in den Händen halten, Fragen, die sie den „lebenden Büchern“ stellen möchten. So hat es auch Stefanie gemacht und fasst sich ein Herz, indem sie die erste Frage an Dietmar stellt: „Wie lange waren Sie im Gefängnis“? Dietmar antwortet ruhig und konzentriert und scheut den Blick der SchülerInnen nicht. Dietmar ist ein ehemaliger Bankräuber und einer „der lebenden Bücher“, die in die Gesamtschule gekommen sind, um sich den Fragen der neugierigen ZehntklässlerInnen zu stellen.

„Die lebende Bibliothek“ ist ein Projekt des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln und möchte Menschen eine Gelegenheit bieten, sich in der Diskussion auf „das Fremde“ einzulassen. Das Prinzip der „Lebenden Bibliothek“ ist einfach: Personen leihen sich für 30 Minuten „ein Buch“ aus und lesen bzw. sprechen „damit“ unter vier Augen. Wobei es sich nicht um richtige Bücher handelt, sondern um Menschen, die eine besondere Geschichte zu erzählen haben. Wie fühlt es sich an, als Blinde zu leben? Wie ist es, alkoholabhängig gewesen zu sein? Wie lebt es sich als MuslimIn in Nordrhein-Westfalen? Was erlebt man als Polizistin?

Polizistinnen erzählen, unterhalten sich mit anderen Personen
Welche Erfahrungen machen Polizistinnen? Die „lebende Bibliothek“ schafft Gesprächtssituationen | Foto: Caritas

Britta ist nach einer Augenerkrankung erblindet. Sie erzählt aus ihrem Alltag, von den Schwierigkeiten oder auch mal was Lustiges. Zum Beispiel, wie sie für einen Marathon trainierte:„Ich bin gelaufen wie ein Storch im Salat“, erinnert sie sich. Bernd erzählt, wie er aufgrund seiner Spielsucht seine Wohnung verlor. Die Individualität der einzelnen Person steht im Vordergrund. Das Publikum hat die Chance sich auf Menschen einzulassen, denen es sonst nie begegnen würde.

Von Wien nach Köln

Der Fokus dieses spannenden Konzeptes liegt darin, die Vielfalt der Gesellschaft aufzuzeigen und mehr Verständnis zu schaffen. Der Leitgedanke ist: „Sprich mit deinem Vorurteil“, so erklärt es Sabine Kern, Leiterin des Projektes. „Wichtig ist doch, dass wir miteinander reden, statt übereinander“, betont sie.

Die Initialzündung, dieses Projekt in Deutschland anzubieten, war für Kern ein Besuch in Wien: Dort sah sie zum ersten Mal eine Veranstaltung der „Lebenden Bibliothek“ und war begeistert. Zurück in Köln stellte sie diese Art der Diskussion der Caritas vor und brachte eigene Ideen mit ein. Durch eine EU-Förderung konnte sie die Initiative schließlich auf die Beine stellen. Seit 2014 besucht Sabine Kern mit der „Lebenden Bibliothek“ Schulen, nimmt an öffentlichen Veranstaltungen, Thementagen oder Begegnungsfesten teil.

Die Neugier sei beim Publikum vorhanden, sagt Kern. Aber wenn es darum gehe, mit „lebenden Büchern“ ins Gespräch zu kommen, zeigten sich viele Menschen zurückhaltend. So bekomme sie von vielen Erwachsenen zu hören: „Oh, mit fremden Menschen reden, das kann ich nicht!“ Für Dietmar, der im Alter von 25 Jahren eine Bank ausgeraubt hat, ist die anfängliche Scheu der Menschen ihm gegenüber nichts Neues. „Ich habe damals einen dummen Fehler begangen und bin dafür eingesperrt worden. Jetzt bin ich wieder frei und wie jeder andere Mensch“, erklärt er. „Die lebende Bibliothek “ ist für ihn eine Möglichkeit, seine soziale Kompetenz auszuleben. Schon im Gefängnis wurde er dazu ausgesucht, für seine Mithäftlinge zu kochen. „Das Miteinander gefällt mir“, beschreibt Dietmar sein Engagement in der Initiative.

„Warum ich?“ - Das sind die Richtigen!

Wie wird man eigentlich ein „lebendes Buch“? Sabine Kerns Datenbank umfasst bislang 200 Personen, die für ihre Veranstaltungen in Frage kämen. Natürlich sollen es noch mehr werden. Wenn Kern sich für jemanden interessiert und die Person darauf anspricht, bekommt sie als Antwort manchmal ein entgeistertes „Warum ich?“. Genau diese Personen sucht sie: Menschen, die nicht viel Aufsehen um sich selbst machen, aber dennoch eine ungewöhnliche Geschichte in sich tragen.

Ein „lebendes Buch“, das bei Kern Eindruck hinterlassen hat, ist ein Nazi-Aussteiger und Hooligan: ein angenehmer, eloquenter Mensch mit vielen Tätowierungen. Diesen Menschen sympathisch zu finden, erläutert Kern, habe sie in einen inneren Konflikt gebracht, sie zum Nachdenken bewegt. Genau diesen „Anstoß, über etwas nachzudenken“ soll das Projekt bewirken. Es ermöglicht, Meinungen, Auffassungen und Vorurteile zu hinterfragen und zu versuchen, nicht in Schubladen zu denken.

Ein Astronaut und ein Investmentbanker

Die SchülerInnen der Gesamtschule haben in den Gesprächen mit den Büchern der „Lebenden Bibliothek“ viel gelernt. Auch Dietmar will beim nächsten Mal wieder dabei sein. „Die lebende Bibliothek“ ist ein Vorzeigeprojekt und hat in vielen deutschen Städten NachahmerInnen gefunden. Doch Sabine Kern ist die einzige, die sich das ganze Jahr hindurch dafür engagiert.

Die Koordination, die Suche nach „Büchern“, die Kontaktaufnahme mit VeranstalterInnen, die Durchführung vor Ort: das alles macht sie allein, nur teilweise unterstützt durch studentische Hilfskräfte. „Aber der Kraftakt lohnt sich und man lernt immer wieder etwas Neues“, so die Projektleiterin – die selbst Wünsche auf der „Leseliste“ hat: „Irgendwann den Astronauten Alexander Gerst und einen Investmentbanker als ‚lebende Bücher’ einladen zu können, das wäre der Knaller.“

Logo Sonderpreis Kultur öffnet Welten
 

Das Projekt „Die lebende Bibliothek“ ist für den diesjährigen Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ nominiert. Das Konzept kommt ursprünglich aus Dänemark. Der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. ist seit 2014 Träger der „lebenden Bibliothek“ im Raum Nordrhein-Westfalen.

Aus der Begründung der Jury:

(...) Die „lebenden Bücher“ sind Zeitzeugen und MittlerInnen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und Religionen. Sie erhalten eine individuelle Stimme, ihrer Biografie begegnen andere mit Wertschätzung, sie erfahren sich als gestaltendes Subjekt ihrer Lebensgeschichte. Pauschale und stereotype Wahrnehmungsmuster der modernen Massenmedien werden durchbrochen – hier steht die individuelle Persönlichkeit im Mittelpunkt. Das Projekt belebt die uralte Kunstform des Geschichtenerzählens wieder, die zu allen Zeiten und in allen Regionen weltweit bekannt ist. Auf spielerische Weise wird Fremdheit überwunden und der interreligiöse Austausch befördert. Das Projekt überzeugt durch seine einfache, spielerische und sinnliche Idee, die modellhaft und auf unterschiedlichste Rahmenbedingungen übertragbar ist. (...)

  • Antidiskriminierung
  • Gleichberechtigung
  • generationsübergreifend
  • kulturelle Teilhabe
  • kulturelle Vielfalt