Das „reisende Vorlese-Sofa“ in Bremen: Eye-Catcher im öffentlichen Raum
Nominiert für den Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ 2017
06.04.2017
Ein knallrotes Sofa, eine Stehlampe, eine Kiste voller Bücher und jede Menge Sitzkissen: Das sind die Zutaten für ein einzigartiges, mehrsprachiges und interkulturelles Vorleseprojekt in Bremen.
Von: Tina Adomako
Im Spätsommer 2016 fuhr ein rotes Sofa zwei Wochen lang durch Bremen und machte an unterschiedlichsten Orten Station. 15 BremerInnen aus 15 Ländern lasen auf schönen Plätzen ihre Lieblingsgeschichte vor und erzählten, warum und wie sie nach Bremen eingewandert sind. Manche kamen der Liebe oder des Studiums wegen; andere kamen, um zu arbeiten, oder flohen vor Krieg und Katastrophen. Die Idee mit dem reisenden Vorlese-Sofa stammt von der Journalistin Annette Wagner. Wir haben sie zu ihrem Projekt, das für den diesjährigen Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ nominiert wurde, befragt.
Frau Wagner, wie kamen Sie auf die Idee des Vorlesesofas?
Vor zwei Jahren fing ich neben meiner Tätigkeit als freie Journalistin an, in der Flüchtlingshilfe zu arbeiten. Das war die extreme Hochphase im Sommer 2015, als viele Menschen in Deutschland ankamen. Ich erlebte damals die Situation in einer völlig überfüllten Turnhalle, wo 160 Menschen auf Matratzen lagerten, ganz ohne Privatsphäre. Die Menschen waren gestresst. Übermüdete Kinder rannten herum und brauchten Beschäftigung. Ich habe mit den Kindern Bilderbücher angeschaut und begann daraus vorzulesen. Durch diese Aktion entstanden kleine Ruheinseln inmitten der Hektik. Man konnte sich sprachlich nicht verständigen, aber Bilder sind auch ein Medium und ihnen folgten die ersten Worte. So habe ich festgestellt, dass Geschichten über Sprachbarrieren hinweg erzählt werden können. Aus dieser Situation heraus nahm die Idee des tourenden Sofas langsam Gestalt an.
Also haben Sie am nächsten Tag ein Sofa besorgt und losgelesen?
Nein, so schnell ging das natürlich nicht. Zuerst haben wir in einer benachbarten Bibliothek eine deutsch-arabische Lesung mit einem Flüchtlingsjungen ausgerichtet. Er las die Bremer Stadtmusikanten auf Arabisch vor; eine Betreuerin aus der Unterkunft, eine junge Theaterpädagogin, las die Geschichte auf Deutsch. Kurz danach wurde die Notunterkunft aufgelöst, die Leute wurden auf verschiedene Unterkünfte verteilt und begannen, sich in ihre WLAN-Zonen, zum Nachrichtenaustausch mit Freunden in der Heimat, zurückzuziehen. Sie waren kaum mehr greifbar. Mein Impuls war, sie da rauszuholen, mit anderen Menschen zusammenzubringen und ihnen gleichzeitig zu verdeutlichen: Es gab schon Menschen vor euch, die aus verschiedensten Gründen und in unterschiedlichsten Lebenssituationen ausgewandert sind. Von denen könnt Ihr lernen, Euch neu zu verwurzeln, hier anzukommen. Die haben das geschafft, also kriegt Ihr das auch hin.
Warum gerade Vorlesen? Wäre es nicht einfacher gewesen, gemeinsam zu kochen oder ein Fest zu feiern?
In meiner Familie wurde früher viel vorgelesen. Gutenachtgeschichten leiteten uns in den Schlaf. Das hat mich geprägt, und als Leseratte war mir klar, dass das Projekt etwas mit Lesen zu tun haben sollte. Hinzu kam, dass ich in einem früheren Crossmedia-Projekt – es ging um Demenz – etwas Ähnliches gemacht hatte. Bei www.squeezeme.de wie auch beim ambulanten Vorleseprojekt ging es darum, im Stadtraum ein sozialpolitisches Thema sichtbar zu machen, Passanten damit zu überraschen und zu konfrontieren. Da kommt ein rotes Sofa angerollt, darauf steht in großen Lettern www.liesmirvor.net. Die Leute staunen: „Oh, was ist denn das?“ Ein öffentlicher Zirkuseffekt, der beim Kochen in einer geschlossenen Küche gefehlt hätte. Wobei: Zusammen mit Geflüchteten gekocht haben wir auch, aber das fand drinnen in meiner Wohnung statt, abgeschottet von der Öffentlichkeit.
Ist das auch der Grund, warum das Sofa wandert und nicht an einem Ort, wie z.B. in einer Bibliothek oder einem Buchladen bleibt?
Wir wollen zum einen nicht nur Menschen erreichen, die sich ohnehin für das Lesen interessieren und in Büchereien gehen. Zum anderen geht es auch um die Sichtbarkeit. Das rote Sofa ist ein Eye-Catcher im öffentlichen Raum. Es macht dort Station, wo viele Leute vorbei flanieren. Am Weserufer, im Stadion von Werder oder auf dem Marktplatz. Lesekultur als Brückenbauer – das ist die Idee.
Sie haben aber auch einen integrativen Gedanken: das Zusammenbringen von früher und neu Zugewanderten...
Ja. Es ist eine Mischung aus dem Wunsch zu zeigen, welche MigrantInnen Bremen kulturell und gesellschaftlich prägen. Außerdem möchte ich den früheren MigrantInnen-Generationen Wertschätzung erweisen, weil sie einen erheblichen Anteil an der vielgelobten deutschen Willkommenskultur haben, aber selten in ihrer Rolle benannt werden. Ziel ist auch, eine Verbindung zwischen deutschen Familien und ihren Kindern, den Neuankömmlingen und den früheren Migrantengenerationen herzustellen - und das in einer beiläufigen, unterhaltsamen und ungezwungenen Situation. Das Vorleseprojekt gibt MigrantInnen verschiedener Generationen und Motivationen ein Gesicht und eine Stimme - und zeigt die Vielfalt der Stadt. So wurde bisher auf Russisch, Farsi, Arabisch, Tigrinya (Eritrea) und auf Platt gelesen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wer hat bei dem Projekt mitgemacht?
Unheimlich viele! Insgesamt waren über 40 Menschen ehrenamtlich beteiligt – die Leute vom Möbelhaus, das das Sofa spendete, über die Fahrrad-Kuriere, die das Sofa auf einem Anhänger kostenlos von Ort zu Ort zogen, die VorleserInnen, Mitglieder der Flüchtlingshilfe Bremen, die die Termine auf ihrer Facebook-Seite bekannt gaben. Dies hatte eine enorme MultiplikatorInnenfunktion. Auch die Senatorin für Soziales, die Bürgerstiftung Bremen, AWO Soziale Dienste und die Stadtbibliothek Bremen haben uns unterstützt. Ohne das riesige HelferInnen-Netzwerk wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Alle kann ich hier gar nicht nennen, sie stehen aber auf der Webseite.
Wie geht es mit dem Projekt nun weiter?
Das Sofa befindet sich zurzeit im Winterschlaf. Sollten wir aber am 26. April zu den ersten Preisträgern gehören, gibt es schon Ideen, wie es weitergehen könnte. Wir hätten dann die Mittel, um alle Geschichten zweisprachig einzulesen und als Podcasts auf unsere Webseite zu stellen. Zwei Geschichten haben wir schon eingelesen, weiter kamen wir nicht, weil wir alle ehrenamtlich arbeiten. Mit größerem Budget wären eventuell Veranstaltungen im Sommer an neuen Orten denkbar. Vielleicht vor einem italienischen Eiscafé? Italienisches Eis ist heute ein Stück deutsche Kultur. Was wäre der deutsche Sommer ohne dieses Eis! Auch der asiatische Raum kam bisher zu kurz. Schauen wir mal, was 2017 und 2018 bringen.
Das Projekt „Das reisende Vorlese-Sofa“ ist für den diesjährigen Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ nominiert. Es besteht seit August 2016.
Aus der Begründung der Jury:
Ein interkulturelles Vorleseprojekt der besonderen Art: Zwei Wochen reist ein großes rotes Sofa durch unterschiedliche Stadtviertel Bremens und lässt die Lieblingsgeschichten ihrer BürgerInnen in ihren jeweiligen Herkunftssprachen und auf Deutsch im öffentlichen Raum vorlesen. Ob auf Farsi, Italienisch oder Plattdeutsch, die unterhaltsame, aber auch emotionale und intime Situation des Vorlesens kann generations- und kulturübergreifend, zwischen den „alten“ und „neuen“ BürgerInnen der Stadt Bremen Brücken bauen und wirkt nachhaltig auf das Zusammenleben im Viertel. Eine strategische Kooperation mit den unterschiedlichen AkteurInnen der Stadtteile, u.a. Kultur- und Stadtteilzentren, inter- kulturellen Initiativen, VertreteInnen der Flüchtlingsarbeit und Stadtgarten-BetreiberInnen lässt neue Netzwerke und Formen von Zusammenarbeit entstehen, und macht ganz nebenbei auf schon bestehende lokale Bildungseinrichtungen, wie Bibliotheken, aufmerksam. Das mobile Vorlese-Sofa hat durch seine charmante und versteckt integrative Wirksamkeit einen bundesweiten Modellcharakter.