Das „Mannheimer Erbe der Weltkulturen“: Identifikationsangebot für StadtbürgerInnen
Nominiert für den Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ 2017
10.04.2017
Erstmals in einer deutschen Kommune hat die Bevölkerung Gelegenheit, Kulturgüter zu benennen, die nach dem Vorbild des UNESCO-Weltkulturerbes in einer Liste gesammelt werden.
Von: Bahdja A. Maria Fix
Ist dies ein künstlerisches Aufbegehren gegen den Kulturkanon? Gegen erschwerte Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Partizipation? Kann ein Projekt dieser Ausrichtung in einer internationalen Stadt integrativ wirken? Kann es interessieren, verbinden, aufklären, das subjektive Sicherheitsempfinden der BürgerInnen verbessern?
Der Ideengeber Jan-Phillipp Possmann und das Künstlerhaus „zeitraumexit“ starteten das partizipative Kulturprojekt das Mannheimer Erbe der Weltkulturen im Sommer 2016. Unter der Schirmherrschaft der Deutschen UNESCO-Kommission sowie in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und weiteren PartnerInnen nahm es seinen achtmonatigen Weg bis zur Präsentation im Januar 2017.
Der Countdown läuft
Intensiver Kaffeegeruch zieht durch das Weltkulturen-Café im Jugendkulturzentrum „Forum“. Es hat sich in zentraler Lage provisorisch eingerichtet. Die hauptamtlichen und freiwilligen HelferInnen sind gut gewappnet für die lange Phase des Suchens, Fragens, Aufnehmens, Diskutierens, Organisierens. Zweimal wöchentlich will man mit einem open office nah dran sein. Interessierten die Möglichkeit geben, mit dem Team ins Gespräch zu kommen, ihr Erbe zu definieren. Klar ist: Der Zeitplan ist straff.
Das Mannheimer Erbe der Weltkulturen, 160 sollen es sein, will man bis Ende des Jahres 2016 ausfindig machen. Nach unzähligen Treffen bei Sport- und Jugendvereinen, Gemeinden und Gesprächen mit zugewanderten BürgerInnen heißt es noch einmal Gas geben. Wochen vor der großen Show flyern, postern, posten. Weitersagen und immer wieder Menschen begeistern. Auch jene, die meinen „Kultur? Das brauch‘ ich nicht“, wie eine ältere Passantin äußert.
Die Show
Freitag, der 20. Januar 2017: Die Türen des Ratssaals im Stadthaus Mannheim sind weit geöffnet. Nicht nur durch seine großzügigen, halbrund angeordneten Sitzreihen und Stadtwappen gebietet er Respekt. Man spürt, dass hier sonst nur Politik und Stadtverwaltung Zutritt haben. Anfangs füllt er sich zögerlich. Zu Beginn der Show aber drängen sich die zu spät gekommenen ZuschauerInnen in den hinteren Reihen und auf der Empore.
Ein Show-Marathon liegt vor MacherInnen, RepräsentantInnen, Komitee und BesucherInnen. 89 „Kulturen“ werden an zwei Tagen jeweils insgesamt zwölf Stunden lang präsentiert. Glanzlichter gibt es viele. Für die einen sind es die Tanz-, Gesangs- oder Musikdarbietungen, für andere das Kulinarische oder Ideelle. Die Rede des Oberbürgermeisters Dr. Peter Kurz setzt ein Zeichen für die Wertschätzung aller BürgerInnen, ganz gleich welcher Herkunft.
Bunt, nicht perfekt
Dramaturgisch haben die MacherInnen versucht, die Reihenfolge der Darbietungen politisch möglichst wenig aufzuladen. Aus Solidarität für die Menschen in und aus Syrien und als klare Positionierung gegen Kriege ist die erste Vertretung des Mannheimer Kulturerbes aus Syrien. Gefolgt von einer inhaltlich gelungenen Reihenfolge der Präsentationen, über Kontinente hinweg. Nach dem mexikanischen Tag der Toten kommen das schwedische Fest der Lucia und das namibische Holzspiel Mancala.
Eine Repräsentantin mit Kopftuch betritt in einem roten, bodenlangen Kleid die Bühne. Ihr Beitrag ist akribisch vorbereitet. Bei der Präsentation ihres Erbes verweist sie auf Bibel- und Koranzitate. Auf Tradition und Zukunft. Eine Sichtweise, die verbindet, das große Ganze im Blick hat. Auch wenn sie selbst Ausgrenzungserfahrungen machen musste: Die Akademikerin erhielt von der Arbeitsagentur den dringenden Rat, putzen zu gehen. Perfekt ist es nicht. Von einem Durcheinander sprechen einige. Spontane Änderungen im Ablauf. Wo bleibt der Beitrag über die Kultur der Tuareg? Die Zusage ist da. Eine Absage folgt. Schade! Dann muss es eben ohne gehen. Und in letzter Minute die erneute Zusage.
Ab und an entsteht ein Gefühl von voyeuristischem Eindringen in das Leben der anderen, von Abgrenzung. Wir wollen das Exotische sehen. Werten aber auch genau das. Finden vermeintliche Schwächen in den Präsentationen charmant. Sind angetan von farbintensiven Kleidern. Kosten als aufgeklärte Menschen gerne etwas Neues. Auf Augenhöhe betrachten sieht anders aus. Man trifft überwiegend BildungsbürgerInnen, die Berührungspunkte mit dem vermeintlich Fremden haben und bereits verbindend agieren. „Bildungsferne“, Menschen aus sozial schwachen Bevölkerungsschichten mit und ohne Migrationsgeschichte, konnte man kaum erreichen. Dennoch hätte es für gemeinsame Erlebnisse gegen Ressentiments auch sie gebraucht.
Die Liste
Am Ende der Präsentation werden die RepräsentantInnen per Urkunde zu BotschafterInnen der Weltkulturen Mannheims erklärt. Die Liste mit 89 Erben kann sich sehen lassen in ihrer Eigenschaft als Identifikationsangebot für die StadtbürgerInnen. Für eine „Liste des Besten und Wertvollsten, was die Einwanderungsgesellschaft Mannheims zu bieten hat“, wie die Webseite wirbt, hätten jedoch noch fast 50 Prozent des vielfältigen kulturellen Angebots Eingang finden müssen. Interessant wäre auch ein deutscher Beitrag gewesen, der den verbindenden Charakter symbolisch sicher verstärkt hätte.
Damit das unter hohem Aufwand gesammelte Wissen über die in Mannheim ansässigen Kulturen erhalten bleibt, ist auch die letzte Phase umfassend sinnlich erfahrbar ausgerichtet. Im Mai eröffnet das Künstlerhaus zeitraumexit eine Ausstellung in den eigenen Räumen. Die Wissenschaft hat bei einem Symposium in der ersten Ausstellungswoche die Gelegenheit, über „ethnologische, museologische und objektphilosophische Fragen“ zu diskutieren, informiert die Webseite.
Nachahmung erwünscht
Pädagogisch abgerundet wird das Projekt durch eine Publikation in Form eines Stickeralbums, das Auskunft über die RepräsentantInnen und ihr jeweiliges Erbe gibt, erhältlich ab dem Tag der Ausstellungseröffnung. Die Mannheimer Weltkulturerbe-Orte werden mit einer Plakette versehen; mit Smartphone-App und Stadttouren inklusive Live-Performances gelangen BesucherInnen in die sozialen Brennpunkte der Stadt und können sie aus einer neuen Perspektive betrachten: als Herberge wichtiger Kulturbeiträge.
Für den Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ nominiert, ausgelobt von der Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, ist dies ein Projekt, wie man es sich allerorts nur wünschen kann. Weil es den Spagat schafft, diverse Kulturen einer Kommune öffentlich gleichwertig zu präsentieren. Projekte dieser Art regen an, den Kulturkanon aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, ihn zur Diskussion zu stellen - Schritte in die richtige Richtung für ein gleichberechtigtes, fruchtbares Zusammenleben in Vielfalt.
Das Projekt „Mannheimer Erbe der Weltkulturen“ des Künstlerhauses „zeitraumexit“ ist für den diesjährigen Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ nominiert. Es besteht seit Juni 2016.
Aus der Begründung der Jury:
„Dem Projekt gelingt in spielerischer Weise und in einem künstlerisch-partizipativen Prozess eine Dokumentation der reichhaltigen und vielfältigen Kulturen aus 160 Ländern in Mannheim und macht diese sichtbar. Es reflektiert gleichzeitig das Kulturerbeprogramm der UNESCO und ermutigt die BürgerInnen dazu, auch außerhalb der professionellen Zuschreibung eine eigene Identität zu behaupten. Das Projekt sowie der Umsetzungsprozess und die Präsentation sind ungewöhnlich und modellhaft und können von anderen Institutionen übernommen werden. Auch mit Blick auf das Europäische Kulturerbejahr 2018 zeigt die Aktion in Mannheim, wie gelebtes Kulturerbe originell präsentiert werden kann.“
Weitere Termine:
07.05.17 Ausstellungseröffnung, zeitraumexit, Hafenstraße 68
10.-11-05.17 Symposium, zeitraumexit, Hafenstraße 68
13.5., 20.5., 27.5., 3.6.+4.6.17 Performance-Touren Walking/Bike