„Musik schafft Perspektive“: Vom Konzertsaal ins Klassenzimmer
Ausgezeichnet mit dem Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ 2017
12.04.2017
Dass Oper auch an einer Grundschule funktionieren kann, beweisen GrundschülerInnen im Potsdamer Bezirk Drewitz, MusikerInnen der Kammerakademie und ein Stadtteilzentrum mit dem zukunftsweisenden Projekt „Musik schafft Perspektive“.
Von: Jochen Markett
„Wie ein und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, jeweils ganz anders erscheint“. Das hat den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz schon vor mehr als 300 Jahren erstaunt, als er den Begriff der „Perspektive“ in die Philosophie einführte. Liefe Leibniz heute durch den Potsdamer Stadtteil Drewitz, er dürfte sich bestätigt fühlen.
Denn das Image von Drewitz ist auch eine Frage der Perspektive: Viele denken dabei immer noch an einen Problembezirk, an sanierungsbedürftige Plattenbauten, Arbeitslosigkeit, an viele allein erziehende Eltern. Doch es gibt auch eine ganz andere Sicht auf Drewitz: ein Stadtteil, der einerseits erfolgreich zur Gartenstadt umgebaut wird – und der andererseits mit dem Kulturprojekt „Musik schafft Perspektive“ bundesweit für Aufmerksamkeit sorgt.
Ein Schlagzeug aus Töpfen und Bratpfannen
Der Perspektivwechsel begann vor knapp zehn Jahren. Die Grundschule am Priesterweg im damals als „abgehängt“ geltenden Drewitz und die Kammerakademie Potsdam beschlossen, zusammen zu arbeiten. Erst noch zaghaft, etwa bei Klassenkonzerten oder Präsentationen von Instrumenten. Für ein Spitzenorchester war schon das keine alltägliche Idee, die sich bis heute zum Vorzeigemodell weiterentwickelt hat. Wichtig war das Jahr 2013: Die Grundschule wurde um das Begegnungszentrum „oskar.“ zur echten Stadtteilschule erweitert und konnte so zum sozialen Aktionsraum für Familien und NachbarInnen werden, für alle Generationen.
„Wir als Orchester dachten: ,Cool!’“, erinnert sich Musikvermittler Tim Spotowitz. Schnell war klar: Eine solche Umgestaltung erfordert mehr als „nur ein paar Bäume“. Der kulturelle Austausch muss erst wachsen, „Musik schafft Perspektive“ wurde ein festes Programm. Das Orchester begann mehrmals im Jahr nicht im bedeutenden Potsdamer Nikolaisaal zu proben, sondern in der Stadtteilschule, vor den SchülerInnen. „Man erlebt durch die Kinder die Musik selber anders, wird geerdet“, sagt Geigerin Isabel Stegner. „Als Profi ist man sonst oft abgehoben. Und: Man kann wieder kreativ werden!“
Wer eine der Proben in Drewitz besucht, sieht das sofort. Isabel Stegner hat aus einem Überraschungsei eine Mignon-Figur gebastelt, Reiskörner eingefüllt – fertig ist die Rassel. Ihr Orchesterkollege Friedemann Werzlau setzt sich mit der Esel-Handpuppe Frieda ans Schlagzeug – das heute vor allem aus Töpfen und Bratpfannen besteht. Im Konzert wird daraus die Instrumentenküche von Franziska Pfaff.
Singen, Schreiben, Gestalten
Die Kreativität überträgt sich auch auf den Schulunterricht: MusikerInnen und LehrerInnen bilden Tandems und gestalten gemeinsame Stunden. Zwei Leuchtturmprojekte sind aus der Taufe gehoben worden, die sich immer weiter entwickeln: ein Open-Air-Konzert im Sommer und eine eigene Drewitzer Fassung der Potsdamer Winteroper, aufgeführt von 380 GrundschülerInnen, LehrerInnen, „oskar.“-MitarbeiterInnen, den MusikerInnen der Kammerakademie und Vielen mehr.
Wenn Schulleiterin Elvira Eichelbaum davon erzählt, strahlen ihre Augen. „Das ist eine kaum in Worte zu fassende Bereicherung.“ Viele Familien in Drewitz hätten keinen Zugang zu klassischer Musik oder überhaupt zu Musik gehabt. Doch dann hätten die Kinder begonnen, im Kunstunterricht zum Beispiel Pantomime zu Strawinsky einzustudieren und damit die Eltern beim Elternabend zu begeistern. Eine 6. Klasse führte eine Kinderoper auf, weckte damit auch das Interesse des prominenten Potsdamers Günther Jauch.
Andere Klassen wollten nachziehen, manche SchülerInnen interessierten sich gar nicht mehr für den normalen Unterricht, sondern nur noch für Singen, Schreiben, Gestalten von Kulissen. Die Schulleiterin stellte fest: „Wir haben seit drei, vier Jahren viel weniger Unfälle an der Schule. Es wird weniger geschubst und angerempelt.“ Der Applaus der Aufführungen übertrage sich auf den Schulalltag, so Eichelbaum.
Neues Gefühl von Anerkennung
WissenschaftlerInnen der Universität Potsdam bestätigten diese Eindrücke. Sie begleiteten das Programm über mehrere Monate – und registrierten eine neue Offenheit, ein sinnliches Erleben im regulierten Schulalltag. Das Opernprojekt ermögliche SchülerInnen ein neues Gefühl von Anerkennung und Selbstwertschätzung, schrieben sie. Elvira Eichelbaum erinnert sich an einen Jungen mit Migrationsgeschichte, der noch kein halbes Jahr in Drewitz war und im Unterricht kaum ruhig sitzen konnte. Er bekam einen Hauptrolle in der Kinderoper – und seine Mutter saß bei jeder Aufführung im Publikum, zu Tränen gerührt, und sagte: „Mein Sohn ist berühmt.“
Die Studie der Uni Potsdam hat zwar auch gezeigt, dass sich bestimmte Zielgruppen noch nicht so beteiligen, wie gewünscht. Die Angebote des „Drewitzer Dreiklangs“ (Orchester – Grundschule – Begegnungszentrum) sollen daher noch präziser auf die tatsächlichen sozialen Verhältnisse abgestimmt werden. Doch Schulleiterin Elvira Eichelbaum sieht schon viele AnwohnerInnen, die „Feuer gefangen haben“. Neulich sei eine alte Dame aus Drewitz weggezogen und habe vorher zu ihr gesagt: „Ich werde euch vermissen. Eure Musik hat für mich ,Heimat’ bedeutet.“ Vor Jahren hätten viele Menschen dort noch isoliert gelebt, seien kaum aus ihren Wohnungen rausgekommen. Nun habe sich der Stadtteil verändert. „Das Wort ‚Perspektive’ passt so richtig gut.“
Das Projekt „Musik schafft Perspektive“ wurde mit dem diesjährigen Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ ausgezeichnet. Das Projekt besteht seit 2013.
Aus der Begründung der Jury:
„Die Initiative der Kammerakademie Potsdam schafft eine langfristige Zusammenarbeit zwischen dem professionellen Orchester der Kammerakademie Potsdam und der Grund- schule „Am Priesterweg“ in Potsdam-Drewitz sowie dem Begegnungszentrum „oscar“. Dieser musikalische Brückenschlag ist – und das zeichnet dieses Projekt besonders aus – eingebettet in das soziale Umfeld: Kitas, Jugendhilfe, Sportsclubs, Seniorenheim, Quartiersmanagement und die Wirtschaft aus dem Kiez wie das Sterncenter, ProPotsdam und lokale Dienstleister sind mit von der Partie. (...) Wegweisend und übertragbar ist die langfristig angelegte, strukturbildende Vernetzung von Schule, Orchester und den sonst völlig getrennten Lebenswelten im Stadtteil – Alt und Jung, Kultur und Wirtschaft, Pro s und Laien, MigrantInnen und Ortsansässige, sie alle verständigen sich durch die gemeinsame Sprache der Musik.“