"New Hamburg": Gemeinsam leben auf der Veddel

Ausgezeichnet mit dem Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ 2017

21.04.2017

Verschiedene Menschen im Freien, am Tisch, essen, trinken, lachen reden
Gemeinsames Fastenbrechen 2016 | Foto: Christian Bartsch

Im ärmsten Stadtteil Hamburgs leben und feiern die VeddelerInnen zusammen und lassen sich gegenseitig am Schatz ihrer über 60 verschiedenen Kulturen teilhaben.

Von: Sugárka Sielaff

„Hier!“ Caner, kleiner Junge, dunkle Haare, hat einen Bauchladen voll gefalteter, bunter Notizzettel anzubieten. Ein älterer Herr in Pastellfarben bleibt unentschlossen stehen. Dann nimmt er doch einen Zettel, entfaltet ihn und liest: Deine Kosinen werden kommen. „Das ist aber schön“, sagt er und ein Lächeln schleicht sich auf sein skeptisches Gesicht. Caner und seine MitstreiterInnen verteilen Zettel mit Prophezeiungen, guten Wünsche und Handlungsanweisungen vor dem Hamburger Schauspielhaus. Ihr Thema: die Zukunft. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Marie Petzold haben die Kinder aus der Flüchtlingsunterkunft auf der Veddel zwei Wochen über die Zukunft nachgedacht, gemalt, gesprayt, getanzt und gestaltet. Jetzt verteilen sie ihre Visionen auf Zetteln.

Zukunft verschenken

Du bekommst Deinen Traumjob, erfährt ein gewichtiger Herr im dunklen Wollmantel. Wie wunderbar, ruft er, er komme gerade vom Vorstellungsgespräch. Hilf Flüchtlingen! zieht eine Passantin. „Ja, das ist wichtig“, sagt sie ernsthaft zu Caner und sie schweigen zusammen.

In der Zukunft, erklärt Caner, als er die futuristischen Papp-Skulpturen und Bilder im Foyer des Schauspielhauses zeigt, wird es viele Roboter geben und Handys, die am Arm festgemacht sind, damit sie nicht runterfallen. Albiona, lebhaft und mit zwölf Jahren eine der älteren, hat kühle Bilder von Planeten gesprayt. Dort wird man in der Zukunft oft hinreisen, sie ist sich sicher. „Es war toll, dass Marie zu uns gekommen ist“, sagt sie. „Ich hoffe, sie kommt wieder.“ Dann gibt es eine Hip-Hop-Vorführung und noch mehr Kekse.

5.000 Menschen – über 60 Nationen

Die Aktion ist Teil des Zukunftsprojekts „NEW HAMBURG“. NEW HAMBURG ging aus einem Festival hervor, das auf Initiative des Deutschen SchauSpielHauses und unter der Leitung von Björn Bicker, Malte Jelden und Michael Graessner im Herbst 2014 theatrale, musikalische, künstlerische, diskursive und aktivistische Ergebnisse und Arbeitsstände aus einer einjährigen Recherche zum (interreligiösen) Leben auf der Veddel präsentierte. Im Anschluss übergaben die künstlerischen Leiter den Fortbestand von NEW HAMBURG in die Hände eines neu begründeten Komitees, das seit November 2014 das Projekt fortführt.

Die Veddel ist der materiell ärmste Stadtteil Hamburgs. Er liegt auf drei Inseln im Hafen, umgeben von Industrie und Deichen. Etwa 5.000 Menschen aus über 60 Nationen leben hier. Nur sechs Bahnminuten dauert der Weg vom Hauptbahnhof aus der Innenstadt, trotzdem waren die meisten HamburgerInnen noch nie auf der Veddel. Reihen von Backsteinhäusern, eine Western-Union Filiale, ein Penny, ein Gemüsehändler, eine verlassene, vernagelte Apotheke, sonst nichts.

„Eine eigene Drogerie für unser Viertel, das wäre ein Traum“, sagt Anja Redecker. Sie und ihre Kolleginnen lachen, als wäre das ein absurder Wunsch. Nennenswerte Kaufkraft gibt es auf der Veddel nicht, darum will hier auch keiner ein Geschäft eröffnen. Aber sie sind hier: Anja Redecker, Dramaturgin, Nina Reiprich, Ethnologin, Sina Schröppel, Kulturarbeiterin und Uschi Hoffmann, Diakonin; sie managen gemeinsam „New Hamburg“. Ein Projekt, das aus dem Wunsch des Hamburger Schauspielhauses entstanden ist, Theater neu zu denken und in die Stadt zu tragen und dem Plan der evangelischen Kirche, die zunehmend verwaiste Immanuel-Kirche auf der Veddel zu einen Ort der Begegnung zu machen.

Publikum bei einer Kulturveranstaltung
Veranstaltung „New Hamburg spricht Kauderwelsch“ | Foto: Christian Bartsch

Diese beiden Institutionen beschäftigen die ständigen Mitarbeiter von „New Hamburg“. Hinzu kommen Drittmittel, die für jede „Spielzeit“ neu organisiert werden müssen. Die Spielzeit 2016/17 wird von der Robert Bosch Stiftung, der Rudolf Augstein Stiftung, der Alfred Töpfer Stiftung, der SAGA Stiftung Nachbarschaft, der Hamburger Kulturbehörde und dem Bezirk Hamburg Mitte finanziell unterstützt.

Gemeinsam feiern - voneinander lernen

Jetzt ist die ehemalige Pfarrei an der Kirche Heimat eines Cafés mit schweren Sesseln und filigranen Glitzerblumen an der Wand. Leise Musik tröpfelt, Kinder malen und puzzeln, ihre Mütter unterhalten sich. Kirche und Café sind durch „New Hamburg“ zum Ort unzähliger Projekte geworden. Hier werden Filme geguckt, es gibt Roma-Tage, Burkina Faso Beauty-Days, gemeinsames Abendbrot, Rechtsberatung, es wird gefeiert, gemeinsam der Fastenmonat Ramadan beendet, Sprachen werden getauscht, über Religionen diskutiert und Theater gespielt.

„Wir fragen vor allem, was die Menschen in unserem Viertel wollen“ sagt Nina Reiprich, „welches ihre Themen und Bedürfnisse sind.“ Ihre Kolleginnen nicken. Seit drei Jahren sind die vier Frauen für „New Hamburg“ auf der Veddel. Aus Gästen wurden sie Teil einer Gemeinschaft. Langsam. Das Vertrauen der BewohnerInnen, die Beziehung zu den vielen verschiedenen Kulturen im Stadtteil, all das, sagen sie, brauchte Zeit. „Wenn bei unserem letzten Fastenbrechen ein älterer türkischer Herr den Imam hereinführt, um ihm ‚unsere Kirche’ einmal zu zeigen, das ist wunderbar“, sagt Uschi Hoffmann.

„Flieh Ephigenie!“ - Theater in der Kirche

In der Kirche ist gerade Theaterprobe. Eine Gruppe Frauen sitzt um einen großen Tisch. Im Hintergrund spielt melancholisch ein Zupfinstrument. Iphigenie, im roten Reifrock, soll Achilles heiraten - es wird nicht gut ausgehen. Die Frauen am Tisch spielen ihre Mütter. „Juhu! Hochzeit! Party!“ ruft eine und tanzt wild. Aber die anderen sitzen stoisch da. „Das Stück erzählt unglaublich viel über Frauen- und Männerrollen“, sagt die Regisseurin Paulina Neukampf, die die Spielerinnen beobachtet. Eine der Mütter erhebt sich. „Gehorsam sei der Gattin erste Pflicht, doch flieh, flieh, so schnell Du kannst, Ephigenie!“ „Aber warum? Warum fliehen?“ ruft Akile laut.

„Die Zwangsehe gibt es immer noch“, sagt sie später in der Zigarettenpause. „Das noch mal ins Bewusstsein zu bringen, berührt mich sehr.“ Im Moment kommt sie jeden Tag nach ihrer Arbeit als Buchhalterin zur Probe. 36 Jahre lang lebte sie auf der Veddel. Erst jetzt ist sie mit ihrem Sohn weggezogen. „Die Veddel war ein Stadtteil, den fast niemand kannte. Und durch ‚New Hamburg’ ist hier endlich mal was los. Hier im Café lernt man wirklich jeden kennen, kommt mit anderen Nationen in Berührung und macht gemeinsam alles Mögliche.“ Dann muss sie weiter proben. In sechs Tagen ist Premiere. JedeR ist eingeladen. „Pay what you want“ steht auf dem Flyer.

Logo Sonderpreis Kultur öffnet Welten
 

Das Projekt „New Hamburg“ wurde mit dem diesjährigen Sonderpreis „Kultur öffnet Welten“ ausgezeichnet. Das Projekt besteht seit 2014.

Aus der Begründung der Jury:
„Was als dreiwöchiges Festival auf Initiative des Deutschen SchauSpielHausHamburg begann, ist zu einem einzigartigen Kooperationsprojekt gewachsen. Hier verbinden sich Theater, Stadtgesellschaft und Kirche, um künstlerisch gleichberechtigte Gesellschaftsformen in einer pluralen und weltoffenen Gesellschaft zu erforschen. Die Jury würdigt die nachhaltigen Verbindungen, die über Stadtteilgrenzen hinweg geschaffen werden. (...) Die Veddel liegt zwar zentrumsnah und doch entfernt von der Mitte Hamburgs. (...) Die NEW HAMBURG-Künstlerinnen und Künstler geben den AnwohnerInnen einen Raum für eigenständige Gestaltung und beziehen sie in die künstlerischen Prozesse mit ein. So entstehen in der künstlerischen Auseinandersetzung neue Formen der Zusammenarbeit und vielfältige Kulturproduktionen. Überzeugt haben die Jury: die langfristigen und vielseitigen Kooperationen, der künstlerisch-experimentelle Ansatz sowie die konsequent partizipative Herangehensweise.“

  • Einwanderungsgesellschaft
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  • kulturelle Vielfalt