Künstlerische Brechstange: Neue Orte für politische Bildung
16.08.2017
Kunst und Politik: zwei vermeintlich voneinander getrennte Gesellschaftsbereiche. Kulturinstitutionen gehen neue Wege, demokratische Kompetenzen zu vermitteln – und schaffen so neue Räume gesellschaftlicher Teilhabe.
Von: Alice Lanzke
Drei Stellwände in sattem Grün, davor eine Gruppe von Jugendlichen, People of Color, die abwechselnd von alltäglichen Erfahrungen mit Rassismus, Misstrauen und Ausgrenzung erzählen. Die Episoden unterbricht der britisch-nigerianische Musiker „Afrikan Boy“ mit explosiven Auftritten, in denen er seinen Song „One Day I went to Lidl“ rappt.
Die gleichnamige Performance gehört zum Repertoire der „akademie der autodidakten“ – ein Projekt des Berliner Theaters „Ballhaus Naunynstraße“. Seit 2007 entwickeln hier LaiendarstellerInnen mit Migrationsgeschichte zusammen mit bekannten RegisseurInnen und KünstlerInnen aus dem Netzwerk des Ballhaus Naunynstraße Theaterstücke, Performances und Reportagen.
In den vergangenen zehn Jahren ist die „akademie der autodidakten“ so zu einem festen Bestandteil der Berliner Kulturszene und zu einem Ort politischer Bildung geworden, der im Juni 2017 mit dem „Julie und August Bebel-Preis“ ausgezeichnet wurde.
Schulen als Ausgangspunkt politischer Bildung
Unter politischer Bildung werden Maßnahmen verstanden, durch die BürgerInnen in die Lage versetzt werden, Zusammenhänge im politischen Geschehen zu erkennen, systematische Kenntnisse über das politische System zu erlangen, Kritikfähigkeit zu entwickeln und Kompetenzen für politisches Handeln zu erlangen – alles mit dem Ziel, eine aktive, partizipierende und mündige BürgerInnenschaft zu entwickeln.
Angesichts dieser Definition mag die Verleihung eines Preises für politische Bildung an ein künstlerisches Projekt erstaunen – doch sie passt zu einer Entwicklung, in der Kunst und Kultur mehr und mehr politische Bildung vermitteln. Keine Selbstverständlichkeit, denn dies wurde in Deutschland lange Zeit als Aufgabe der Schulen gesehen: zunächst im Rahmen der religiösen Erziehung, später als Bestandteil des Geschichts-, Geografie- oder Deutschunterrichts oder als eigenständiges Fach.
Die Diskussion um Sinn und Zweck von politischer Bildung entstand mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten in Europa im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden Frage nach der Bildung und Erziehung von StaatsbürgerInnen.
Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs ordneten die Alliierten in Westdeutschland eine „Re-education“ der BürgerInnen an, die zunächst den Aufbau und in der Folge den Erhalt von demokratischen Strukturen durch schulische und außerschulische Jugendbildung garantieren sollte.
Es folgten polarisierte Auseinandersetzungen um die Frage, ob politische Bildung den Fortbestand der bestehenden Ordnung in Politik und Wirtschaft sicherstellen oder weitreichender auf eine Demokratisierung aller Lebensbereiche und die Schaffung soziale Gleichheit hinwirken sollte. Dort meldeten sich neben PolitikerInnen auch VertreterInnen aus Kunst und Wissenschaft zu Wort – man denke an AutorInnen wie Heinrich Böll oder die TheoretikerInnen der Frankfurter Schule. Parallel dazu wurde in der sich neu formierten DDR ein Schulfach namens „Staatsbürgerkunde“ eingeführt, das aufseiten der jüngeren Bevölkerung eine Übereinkunft mit den weltanschaulichen Doktrinen der SED sicherstellen sollte.
Durch die Studierendenbewegungen in der BRD in den 1960er und 1970er Jahren verschärft gelangte die Diskussion um politische Bildung mit dem „Beutelsbacher Konsens“ 1976 zu einem schriftlichen Zwischenfazit. Dieser umfasst drei Grundsätze:
- Überwältigungsverbot: Lehrende dürfen SchülerInnen im Sinne der Erziehung zu mündigen BürgerInnen nicht überrumpeln oder ihnen ihre Meinung aufzwingen.
- Kontroversität: Im Sinne der Erziehung zur freien Meinungsbildung muss das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
- SchülerInnenorientierung: SchülerInnen sollen in die Lage versetzt werden, die politische Situation der Gesellschaft und ihre eigenen Positionen zu analysieren und sich aktiv am politischen Prozess zu beteiligen sowie „nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne [ihrer] Interessen zu beeinflussen“.
Jene drei Prinzipien wirken bis heute und bestimmen die sehr heterogene Landschaft der politischen Bildung in Deutschland. Diese findet zum einen im schulischen und universitären Bereich statt, zum anderen in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung mit ihren ganz mannigfachen öffentlichen und privaten Trägern. Dazu gehören Kirchen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften genauso wie NGOs oder Stiftungen sowie die Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung.
Politische Bildung wird interdisziplinär
Diese Pluralität erlaubt ganz unterschiedliche Zugänge zu politischer Bildung, deren Konsens allerdings darin besteht, Politik als „Regelung von grundlegenden Fragen und Problemen des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens“ zu verstehen. Eben jene Regelung empfinden viele BürgerInnen derzeit jedoch als gestört: Schon seit längerem macht das Schlagwort von der Politikverdrossenheit die Runde; die BürgerInnen würden zunehmend das Vertrauen in die Demokratie verlieren, so das Ergebnis einer Umfrage der Friedrich-Ebert Stiftung.
In gleichem Maße scheinen die Hoffnungen zu wachsen, die auf politischer Bildung ruhen. So bezeichnete beispielsweise Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller bei der 70-Jahr-Feier des August-Bebel-Instituts politische Bildung als „Betriebssystem unserer Demokratie“.
Entsprechend breiter werden die Angebote, die unter dem Label „Politische Bildung“ firmieren: Der Politik-Unterricht an Schulen wird genauso dazugezählt wie das Sommercamp eines Jugendverbandes, ein interkultureller Kochkurs kann sich ebenso im Programm einer politischen Bildungsstätte finden wie eine Tagung zu Politik in Zeiten von Social Media.
Obschon an diesem sehr breiten Verständnis von Politik und politischer Bildung durchaus Kritik geübt wird, hat sich das Feld in den vergangenen Jahren geöffnet: Es ist sowohl internationaler als auch interdisziplinärer geworden. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass zahlreiche Formen der politischen Bildung, wie etwa Theater, Rollenspiele, Musik oder Tanz eigentlich künstlerische Disziplinen sind.
Ein neues Selbstverständnis der Kulturschaffenden
Dass Kunst und Kultur politische Wirkkräfte entfalten können und weit mehr als eine Werkzeugkiste der politischen Bildung sind, zeigt beispielsweise das Zentrum für politische Schönheit. Dieser Zusammenschluss von etwa 70 AktionskünstlerInnen und Kreativen unter der Leitung von Philipp Ruch aktiviert mit spektakulären Kampagnen bewusst politisch kontroverse Themen.
Zu den Grenzgängern zwischen Kunst und Politik gehören auch weit weniger öffentlichkeitswirksame Projekte, wie zum Beispiel das Theaterstück „Odyssee.16“ aus Trier, das Geflüchtete gemeinsam mit professionellen SchauspielerInnen kreierten, oder das Ausstellungsprojekt „Achtung Schiris!“ , an dem SchülerInnen, Lehramtsstudierende und junge Kriegsflüchtlinge gemeinsam wirkten.
Hinzu kommt das Selbstverständnis einer wachsenden Zahl von Kulturschaffenden, die ihre Arbeit als einen Beitrag zur politischen Bildung werten. „Öffentliche Theater verstehen sich zunehmend als Teil der Zivilgesellschaft“, so Stefan Fischer-Fels, Leiter des Jungen Theaters beim Düsseldorfer Schauspielhaus. Theater werde zum Ort der Gemeinsamkeit vieler Unterschiedlicher. Fischer-Fels betont bei der 70-Jahr-Feier des August-Bebel-Instituts: „Kultur für alle ist eine Antwort auf die Herausforderungen einer zerbrechenden Gesellschaft.“
„Kunst besitzt, was der Politik so oft fehlt“
In diesem Verständnis ist Kultur tatsächlich maßgebliches Vehikel politischer Bildung. Das zeigt sich auch in der Selbstbeschreibung der „akademie der autodidakten“, in der es heißt, diese unterstütze „die kulturelle Selbstermächtigung von Jugendlichen mit dem Anspruch, junge Menschen - unabhängig von Herkunft und Status - zur kulturellen und demokratischen Teilhabe zu motivieren und ihre intellektuellen und sozialen Kompetenzen zu fördern“ . Umso passender ist es, dass der erste „Julie und August Bebel-Preis 2017“ für politische Bildung an Veronika Gerhard verliehen wurde, Leiterin der „akademie der autodidakten“. In seiner Laudatio lobte Autor und Sozialforscher Mutlu Ergün-Hamaz die Arbeit der akademie, da sie als „Brechstange“ von verkrusteten Theaterstrukturen wirke.
Bei der Preisverleihung erklärt der Kulturjournalist und Essayist Ingo Arend: „Kunst besitzt, was der Politik so oft fehlt: Einbildungskraft. Es kann keine politische Bildung geben, wenn sie nicht auch ästhetisch ist.“ Gerade heute müsse sich politische Bildung zum Ziel setzen, Wahrnehmungsfähigkeiten zu stärken, Kreativität, Sensibilität und Urteilskraft entwickeln zu helfen: „In digitalen Zeiten ist die Fähigkeit, Bilder kritisch einzuordnen, zu lesen, decodieren zu können, zur politischen Überlebensnotwendigkeit geworden.“ Um Wahrnehmungssouveränität auszubilden – für Arend eine Grundbedingung demokratischen Handelns – sei es notwendig, Kunst und Kultur als Mittel politischer Bildung einzusetzen.
Schon jetzt gibt es fruchtbare Wechselbeziehungen zwischen den beiden Bereichen. So gehört die Entwicklung neuer künstlerischer Resonanzräume mittlerweile auch zu den Aufgaben von politischer Bildung.
Weiterführende Informationen:
Sander, Wolfgang: „Dossier Politische Bildung: 1945 bis heute: Von Anfang bis Pisa“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015.