„Die Parallelgesellschaft ist da, wo es nicht vielfältig ist“

04.09.2017

Porträtfoto Mann
Joshua Kwesi Aikins | Foto: privat

Joshua Kwesi Aikins ist Mitautor der Expertise „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“. Der Wissenschaftler und Aktivist beschäftigt sich mit der Frage, wie die existierende gesellschaftliche Vielfalt im Kulturbetrieb sichtbar werden kann.

Von: Elisabeth Gregull

Wenn man mit Joshua Kwesi Aikins ein Gespräch über den Kulturbetrieb in Deutschland beginnt, gibt es erst einmal ein Lob: „Ich schätze die differenzierte Förderlandschaft. Bund und Länder fördern alle möglichen Kultursparten.“ Als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership“ sieht er aber auch eklatante Probleme: „Die Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich im Kulturbetrieb überhaupt nicht wider. Es werden Parallelgesellschaften dargestellt.“

Kritik als Startpunkt

Schon lange bevor sich Aikins als Wissenschaftler mit „Diversität im Kultursektor“ befasste, hat er sich als Aktivist für das Thema engagiert. Seine Erfahrung: Sichtbarkeit und Zugänge zu Ressourcen hängen eng mit der Frage zusammen: Was gilt überhaupt als Kultur? Aikins ist Berliner und hat schon als Jugendlicher die Spuren des Kolonialismus im Stadtraum gesehen. Seit Jahren engagiert er sich für die Umbenennung von kolonialen und rassistischen Straßennamen. Der Widerstand ist für Aikins Teil der kulturellen Vielfalt der Stadt – der wird aber genauso wenig wahrgenommen wie andere kulturelle Kompetenzen und Ressourcen: etwa das Beherrschen von Musikinstrumenten oder musikalischen Traditionen jenseits des westlichen Kanons.

2015 verfasste Aikins einen Parallelbericht zum Rassismusbericht der Deutschen Bundesregierung. Auch Kulturschaffende of Colour sind Alltagsrassismus und rassistischen Denkmustern ausgesetzt. Die Folge der Diskriminierung ist, dass ihre kulturelle Kompetenzen und Ressourcen nicht gleichberechtigt zum Tragen kommen. „Eurozentrismus und Rassismus sind Dinge, die Menschen Möglichkeiten nehmen. Auch der ästhetischen Wahrnehmung. Das ist tragisch für alle. Ich möchte dazu einladen, die Kritik als Startpunkt zu nehmen und sich zu fragen: Was entgeht mir aufgrund meiner eingeschränkten Wahrnehmung?“

Eine kulturpolitische Aufgabe

Um nachhaltige gesellschaftliche Veränderungsprozesse anzustoßen, müssen zunächst die strukturellen Ausschlüsse identifiziert werden. Das leistet die Expertise „Handlungsoptionen für die Diversifizierung des Berliner Kultursektors“, die Aikins gemeinsam mit Daniel Gyamerah, dem Leiter des Projektes „Vielfalt entscheidet“, verfasst hat. Aikins stellte Auszüge daraus in einem Workshop bei den „Interventionen“ 2017 vor. Man müsse da anfangen, wo über die Strukturen entschieden wird: in der Politik. Der neue Berliner Senat hat diesen Appell aufgegriffen und eine weitere Empfehlung der Expertise umgesetzt: eine Servicestelle für Diversitätsentwicklung einzurichten. Das Projektbüro „Diversity.Arts.Culture“ wurde im April 2017 eröffnet – in Anwesenheit von Kultursenator Klaus Lederer. Das ist für Aikins ein wichtiges Signal: „Berlin als Stadt stellt klar: Wir möchten Pluralisierung fördern und die Kulturlandschaft auffordern, das auch zu tun.“

Politische Rahmenbedingungen können eine „Wirkungskaskade“ in die Kulturverwaltung und die Einrichtungen auslösen, meint Aikins: „Es geht um Personal, Programm und Publikum. Wir möchten dazu auffordern, sich zu überlegen: Wie steht es um die Zugänge zu allen diesen Bereichen?“ Man müsse weg von der Problematisierung von Gruppen und sich stattdessen um die Barrieren kümmern, die Teilhabe verhindern.

Von denen lernen, die nicht da sind

„Von denen, die nicht da sind oder nur prekär dabei sind, kann man am besten lernen, was die Zugangsbarrieren sind“, erklärt Aikins. Man müsse sich fragen: Wer kann überhaupt eine Ausbildung im Kultursektor machen? Wessen Talent wird gesehen? Wer ist im Kernteam? Wer bestimmt über Inhalte? Wer wird als Publikum gedacht?

Das Projektbüro „Diversity.Arts.Culture“ hat sich zum Ziel gesetzt, Zugangsbarrieren zu überbrücken und Diversität im Kultursektor zu befördern. Aikins betont, dass Diversitätsentwicklung eng mit Antidiskriminierungsarbeit verbunden sei. Um Diskriminierung sichtbar zu machen, seien zunächst Datenerhebungen notwendig. „Gleichstellungsdaten“ können den Status quo erfassen und Veränderungen überprüfbar machen. Das ist 2017 einer der Arbeitsschwerpunkte des Projektbüros. Doch das Thema ist komplex – denn mit welchen Begriffen erhebt man Daten? „Begriffe sind Zwangsjacken, die als konzeptionelle Barrieren Zugänge erschweren oder teilweise verunmöglichen“, ist Aikins überzeugt und fragt: „Wie wirken diese Begriffe, Ideen und Konzepte? Welche Stellschrauben ergeben sich, um etwas zu verändern?“

Konzeptionelle Barrieren

Am Begriff des „Migrationshintergrundes“ erklärt Aikins, was er meint. In seinen Workshops zeigt er Tabellen mit Bevölkerungsstatistiken für deutsche Großstädte. Allein in Berlin haben 44 Prozent der 15- bis 18-Jährigen einen sogenannten „Migrationshintergrund“. Doch die reale Vielfalt ist noch größer, da die Zahl statistisch nur Personen mit Migrationsgeschichte bis zur zweiten Generation erfasst. Aikins, Vater zweier Kinder, erläutert die Folgen: „Meine Kinder haben statistisch keinen Migrationshintergrund – ihre Diskriminierungserfahrungen als Schwarze Kinder kann man mit diesem Begriff also nicht erfassen.“ Besser sei es, von People of Colour zu sprechen. Oder die Begriffe zu benutzen, mit denen die Bundesregierung Betroffene rassistischer Diskriminierung benennt: Sinti und Roma, Jüdinnen und Juden, Schwarze Menschen und Muslime.

Ein Begriff wie „Migrationshintergrund“ oder die Idee, Deutschland sei erst seit kurzem von Migration geprägt, mache die Erfahrungen und Kompetenzen ganzer Gruppen unsichtbar. Etwa die Geschichte der Schwarzen Deutschen oder der deutschen Sinti, die seit vielen Generationen und Jahrhunderten hier leben: „Das ist ein Verlust für alle“, so Aikins. „Wir sind umgeben von diesem unglaublichen Reichtum. Aber das Paradoxe ist, dass - obwohl Kultur stark gefördert wird - dieser Reichtum gerade im öffentlich geförderten Kulturschaffen am wenigsten sichtbar wird.“

Durch Inklusion kulturellen Reichtum sichtbar machen

In diesem Kontext problematisiert Aikins einen weiteren Begriff: „Es geht nicht um Integration, es geht um Inklusion.“ In Deutschland wird Inklusion oft nur im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention verstanden, international aber breiter gedacht. So sieht es auch Aikins und zitiert eine im Projekt „Vielfalt entscheidet“ erarbeitete Definition: „Inklusion ist der Abbau aller einstellungs-, struktur- und prozessbedingten Barrieren, die bezwecken oder bewirken, dass Individuen oder diskriminierte Gruppen voll wirksam und gleichberechtigt an den Organisationen teilhaben können.“

Menschen werden aufgrund verschiedener Merkmale diskriminiert: Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung oder sozio-ökonomischer Lage. Die Ausschlüsse verstärken sich oder variieren, je nachdem, welche Faktoren zusammenwirken. Diese Intersektionalität müsse man bei Datenerhebungen und Diversifizierungsstrategien im Blick haben und die Zielgruppen genau benennen, betont Aikins.

Lösungen für die Zukunft

Der demografische Wandel mache die Repräsentation der gesellschaftlichen Vielfalt letztlich zu einer Zukunftsfrage für den deutschen Kulturbetrieb: „In der nächsten Generation, die diese Institutionen weiterführen, weiterpflegen und weiter besuchen soll, gibt es eine unglaubliche Diversität.“ Hier kommt der Politikwissenschaftler zurück zur Förderpolitik im Kultursektor – und spricht ein Gerechtigkeitsproblem an: „Viele der Menschen, vor allem ein wachsender Anteil der Menschen, die diese Förderung mitbezahlen, sind gar nicht repräsentiert – weder auf noch hinter der Bühne.“ Als Strategie spricht Aikins von ‚Pluralisierung’: „Die Vielfalt existiert bereits in der Gesellschaft! Die Frage ist nur, wie kann man Mitwirkung in Kultureinrichtungen bewirken?“

An zwei Beispielen erläutert Aikins, wie Kultureinrichtungen, aber auch die Kulturförderung Zugänge für Gruppen schaffen können, die bisher ausgeschlossen waren. Das Staatstheater Darmstadt nahm vor einiger Zeit Menschen im Rollstuhl ins Kernensemble auf. Anfangs gab es eine Flut von Beschwerden und die Befürchtung, Publikum zu verlieren. „Aber nach einiger Zeit sind die Kritiken verstummt - und die Besucherzahlen sind nicht eingebrochen“, erzählt Aikins. „Inzwischen tun sich ganz neue ästhetische Möglichkeiten auf: in der Gestaltung der Stücke und der Bühne, in der Art, wie auf der Bühne agiert wird.“ Etwas lakonisch fügt er hinzu: „Das Haus hat sich etwas getraut. Man könnte auch sagen: hat mehr Realität auf der Bühne hergestellt. Die Parallelgesellschaft ist da, wo es nicht vielfältig ist. Auf der Bühne, in Stiftungen, im Lehrerzimmer.“

Die Diversity-Standards des British Film Institute verankern Diversität als Querschnittaufgabe. Wer einen Antrag auf Förderung stellt, muss darlegen, wie in dem Projekt die Unterrepräsentierung von Minderheiten verringert wird. Das gilt für vier Bereiche: auf der Leinwand, hinter der Leinwand, beim Zugang zur Kulturindustrie und beim Publikum. „Das ist eine strukturierte Art, darüber nachzudenken“, lobt Aikins. „Man braucht Richtlinien und Benchmarks, man muss es überprüfen können.“

Eine (kultur)politische Antwort

Mit dem Projektbüro „Diversity.Arts.Culture“ hat Berlin einen strukturellen Anker für Veränderungsprozesse geschaffen. Das Büro wird nach der Datenerhebung in 2017 konkrete Zielgruppen benennen und Handlungsstrategien entwickeln. Es wird Institutionen bei der Umsetzung unterstützen, die Kulturverwaltung beraten und von Ausschlüssen Betroffen stärken. Wissensvermittlung, Erfahrungsaustausch und Empowerment gehören zum Programm.

Für Aikins kommt die Berliner Kulturpolitik damit der UNESCO-Erklärung zu kultureller Vielfalt nach, die Deutschland ratifiziert hat: „Ein kultureller Pluralismus ist die politische Antwort auf die Realität kultureller Vielfalt.“

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