Willkommen im Honorary Hotel Leipzig
15.03.2018
In Leipzigs Innenstadt schaffen KünstlerInnen des Vereins „Helden wider Willen e.V.“ das Unwahrscheinliche: Sie erneuern eine entleerte Straße ohne Gentrifizierung und mithilfe der vielfältigen Nachbarschaft.
Von: Jane Whyatt
Laut Schlagzeilen ist es „die schlimmste Meile Deutschlands“: eine hohe Kriminalitätsrate sorgt für den schlechten Ruf der Eisenbahnstraße im Leipziger Osten. Wer möchte schon in so einer Nachbarschaft ein kulturelles Angebot schaffen? „Wir“, dachten sich die KünstlerInnen, die dort wohnen und die wissen, was die NachbarInnen bewegt. Mit viel Engagement und ein paar Projektgeldern – immer zu wenig, immer befristet – haben Ariane Jedlitschka und ihre MitstreiterInnen ein vielfältiges Projekt entwickelt.
Eigentlich sei der Ruf des Stadtteils zu einem Impuls geworden, so Ariane. „Wir haben hier eine Grüne Parade entwickelt, eine Straßenparade. In der Eisenbahnstraße gab es 2015 eine Schießerei, bei der ein Mensch getötet wurde. Regelmäßig fanden, nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof, die LEGIDA-Versammlungen statt. Helikopter kreisten um das Viertel und dann sind hier zehn geflüchtete Familien angekommen und wir haben überlegt: Wie gehen wir damit um? Wir wollten nicht, dass dieses Polizeiaufkommen, das irgendwie bedrückend wirkte, einen Eindruck von neuerlicher Gefahr weckt. Wir machten deshalb eine laute und fröhliche Parade mit Musik und Theater. Wir bauten mit den Kindern große Figuren, bunte Sachen und wir gingen damit auf die Straße.“
Kooperationen für eine vielfältige Stadtgesellschaft
Hier befindet sich das Honorary Hotel. Es ist so benannt nach dem Motto des Kunstprojektes „Honorary Office“ der Medienkünstlerin Antje Schlencker. Engagierte Menschen erhielten von ihr Zertifikate, die ihre ehrenamtliche Arbeit bestätigten. Das kann sehr hilfreich werden, bei Jobcenterbesuchen oder bei Bewerbungen. Im Hotel wohnen zeitweise KünsterInnen, die eingeladen sind oder auf Eigeninitiative Projekte mit der Stadtgesellschaft durchführen wollen. Lucy Steggals aus London war hier mit dem Saturday Museum, einem mobilem Museum, das gefundene Gegenstände präsentiert. Sie hat bei der berühmten Turner Contemporary Gallery im britischen Margate gearbeitet, mit der der Verein seit 2012 kooperiert, um voneinander zu lernen, wie kulturelle Teilhabe ermöglicht wird.
Auch wenn nicht alle diese Willkommenskultur teilen, so wollen das Honorary Hotel und seine MacherInnen eben besonders jene Menschen einladen, die interessiert sind, ihre Ängste und Vorbehalte gegenüber anderen Kulturen und vermeintlich fremd aussehenden Menschen abzubauen. Auch das sogenannte help* Festival bietet dafür alljährlich einen besonderen Rahmen.
Um ein Projekt wie das Honorary Hotel auf die Beine zu stellen, brauchte es viel Ausdauer. Die MacherInnen haben ihr eigenes Geld investiert, als Verein „Helden wider Willen e.V.“ zwei verlassene Häuser übernommen und niedrigschwellig instand gesetzt, erst in Erbpacht, um diese dann schrittweise zu erwerben. Sie bewarben und bewerben sich bei zahlreichen Ministerien und Stiftungen, akquirieren Gelder für den Ausbau der Begegnungsräume und für Veranstaltungen – mit Erfolg. Als eines von 16 Pilotprojekten wurden sie im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik ausgewählt.
Auch das Kulturamt Leipzig und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen engagieren sich in Projekten der KünstlerInnen. Eine Kooperation mit dem renommierten Grassi Museum für Völkerkunde baut sich aktuell auf, um das Artist-in-Residence Programm in den Häusern zu erweitern. Aber auch, um die NachbarInnen und AkteurInnen, mit denen sie bereits aktiv sind, für das Museum zu begeistern und eine Brücke in die vielfältige Stadtgesellschaft zu bauen. Auch die Telekom Stiftung fördert und unterstützt damit die Teilhabe von Jugendlichen an technischen Do it youself-Workshops im Projekt „Heute entdecken, was wir morgen selber machen”.
Bunt ist das Quartier, mit vielen internationalen Studierenden, die hier (noch) niedrige Mieten finden, und einer entspannten Stimmung, zum Beispiel in der KuApo (Kultur Apotheke), einem Café und Buchhandlung mit LiveMusik. Hier setzte ich mich mit Ariane und einem Cappuccino, Ariane stellt mir auf einem großen Plakat das Nachbarschaftsleben vor. Darauf zu sehen: eine Moschee, eine koreanische Gemeinde, ein Japanisches Haus. 2015 wurde zudem eine kleine Gemeinschaftsunterkunft für geflüchtete Familien eröffnet.
„In den zahlreichen Vereinen und Spielhallen entlang der Straße sind die Männer sehr präsent, aber vor einigen Jahren ist ein Ort für Frauen und Mädchen entstanden. Gegründet von Frauenkultur e.V. eröffnete der MIO Mädchentreff ungefähr zur gleichen Zeit wie wir.“ Ariane freut sich darüber.
Ehrenamt schafft Klarsicht
Ältere Deutsche, die bereits ihr ganzes Leben im Viertel wohnen, seien oft sehr freundlich und freuten sich über das Engagement der jungen Menschen, so Ariane. Aber auch sie befürchteten eine Verdrängung wegen steigender Mieten. Zum Beispiel helfe der ehemalige Vorsitzende des Bürgerverein im Leipziger Stadtteil Volkmarsdorf immer gern mit. Auch andere LeipzigerInnen boten ihre Unterstützung an: So zum Beispiel ein ehemaliger Fensterputzer, der kostenlos alle Fenster gereinigt habe, „damit die KünstlerInnen auch Klarsicht haben“. Ein türkischer Bauunternehmer lud Säcke voller Putz vor die Tür und Blumen für den Garten im Hinterhof. Er bekräftigt die „HeldInnen“, weiter dran zu bleiben, rate ihnen aber auch, bei anderen Unternehmen nach Unterstützung zu fragen.
Kartoffeln, Bohnen, Äpfel, allerlei Gemüse und Obst sind ebenso ein wichtiger Teil des Begegnungsortes. Jeden Donnerstag liefern LandwirtInnen aus dem Leipziger Umland regional erzeugte Lebensmittel, die man in Hildes Bauernmarkt über die Marktschwärmer.de Plattform online vorbestellen kann. Dabei entstehen Plaudereien auf offener Straße, Tipps und Rezepte werden empfohlen, und auch der Hinterhof wird zu einem lebendigen Spielplatz.
Ist das Kunst? Kultur?
„Die Begegnung findet nicht in der Theorie statt, sondern bei etwas Alltäglichem, und dadurch entsteht ein wirklich interessanter und verbindlicher Austausch“, erklärt Ariane.
Sie erzählt auch, dass die alten Häuser aus vielen kleinen Wohnungen bestehen, wenig Offenheit, wenig Gemeinschaftsgefühl ausstrahlen und davon, wie der Anbau von Gemeinschaftsbalkonen das Zusammenleben der BewohnerInnen transformiert habe. Die Balkons bedienen je zwei oder drei Wohnungen. So können die NachbarInnen sich ganz einfach kennenlernen, indem sie zwanglos zusammensitzen und abends im Hinterhof gemeinsam den Tag Revue passieren lassen.
Dadurch ist sogar eine Liebesgeschichte entstanden. Eine ehemalige Bewohnerin, die bereits weggezogen war, kam auf Besuch zurück. Sie wollte noch ein paar Sachen abholen und hat zum ersten Mal ihren ehemaligen Nachbarn, einen Künstler aus Kanada getroffen. Auf dem Balkon, natürlich. Sie sind nun ein Paar und planen bereits einen gemeinsamen Studienaufenthalt in Köln.
Ein Begegnungsplatz, geschaffen, um Kartoffeln zu kaufen, Kunst im sozialen Kontext zu produzieren und kreative Kollaborationen zu ermöglichen: Das sind Schwerpunkte des Projekts. Es sieht immer noch wie eine etwas chaotische Baustelle aus, aber die Projektleiterin ist voller Tatkraft und plant aktuell den Aufbau eines Community Radios, das Straßenradio E, um das Mikrofon an die Nachbarschaft weiterzureichen, so dass sie dem schlechten Ruf mit ihrer eigenen Stimme etwas erwidern können. Ihre Straße mag die sogenannte „gefährlichste“ im Bundesland sein, aber sie ist auch voller Lebensfreude und Engagement. Hier, und nicht in den szenigen Cafés, entsteht die richtige Alchemie.