„Wir beanspruchen unseren Platz“

09.04.2018

Frau bei Vortrag
"Wem gehört die künstlerische Praxis der Sinti und Roma?". Ethel Brooks vor den Vereinten Nationen, 2013 | Foto: Ethel Brooks

Wer produziert Wissen über Sinti und Roma? Wem gehört ihre künstlerische Praxis? Initiativen wie das Europäische Roma Institut für Kunst und Kultur (ERIAC) in Berlin oder das RomArchive fördern die Selbstrepräsentation von Roma-KünstlerInnen und KulturproduzentInnen und entwickeln so alternative Konzepte europäischer Geschichtsschreibung – jenseits kolonialer und marginalisierender Narrative. Ein Essay von Ethel Brooks.

Article in English

Von: Ethel Brooks

Die Werke, Themen und Bilder von Roma-KünstlerInnen und KulturproduzentInnen sind seit Jahrhunderten ein zentraler Teil des europäischen Kulturerbes. Doch erst in der jüngeren Vergangenheit lässt sich ein notwendiger Perspektivwechsel beobachten, bei dem die KulturakteurInnen selbst das Narrativ ihres Schaffens bestimmen.

Beispiele für die aufblühende Kunst- und Kulturszene von Roma und Sinti gibt es in Berlin, wo sich Institutionen der Künste und der Kultur der Roma, der Erinnerung wie der Wissensproduktion befinden. Es sind unter anderem das Europäische Roma Institut für Kunst und Kultur (ERIAC), das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, das Berliner Büro des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, das RomArchive, das feministische Romnija-Archiv in Kreuzberg, der Roma Day, die Roma-Biennale oder auch eine jüngere Reihe von Roma-Theaterproduktionen wie Roma Armee im Maxim Gorki Theater sowie Rastplatz Marzahn.

Wir Roma und Sinti, in Europa und darüber hinaus, erschaffen unsere eigenen Räume für Kulturproduktion, künstlerische Praxis und Wissensproduktion. Wir beanspruchen unseren Platz als Intellektuelle, KünstlerInnen und WissensproduzentInnen und richten dabei unsere Position, unsere Geschichte und unsere kulturelle Praxis neu aus. Wir machen eine Bestandsaufnahme unserer Beziehung zu Europa.

Wer produziert Wissen über Sinti und Roma?

Zu diesem Prozess der Bestandsaufnahme gehört, dass wir uns selbst, Europa und der Welt Fragen stellen: Was ist eine Roma-Kunstpraxis? Was ist Roma-Wissensproduktion? Was ist Roma-Geschichte? Wer produziert Wissen über Sinti und Roma? Wem gehört die künstlerische Praxis der Sinti und Roma? Wer beansprucht die Geschichte, Identität, Künste und Kultur der Roma? Wessen Stimme, wessen Vision, wessen Bilder werden projiziert, zirkuliert und definiert als die von Roma- und Sinti-Subjekten, sowie von der Kultur und Geschichte der Roma?

Die Geschichte, Kulturproduktion und das Wissen von Sinti und Roma ernst zu nehmen bedeutet, das herrschende Verständnis von Europa als einen abgegrenzten Raum aus Praktiken, Institutionen und Wissensformen zu hinterfragen. Roma und Sinti sind Europas größte und älteste Minderheit; auf dem Kontinent leben 10-12 Millionen Sinti und Roma; Millionen weitere leben in der Diaspora auf dem amerikanischen Kontinent, in Afrika, Australien und Asien.

Darstellungen von Roma-Subjekten sind für einen Großteil des europäischen Kanons zentral. Gemälde, die das Leben und die Kultur der Roma zeigen, Einzelpersonen wie auch Communities, finden sich in Museen und Archiven auf der ganzen Welt, vom Metropolitan Museum of Art in New York zur Tate in London, dem Louvre in Paris und dem Pergamonmuseum in Berlin. Roma-Persönlichkeiten waren ebenso zentral für künstlerische Schulen wie die Romantik, die Praxis der Bohèmiens, die Avantgarde wie auch für die musikalische Komposition im 18., 19. und 20. Jahrhundert, die sich alle im Namen einer jeweils hochaktuellen künstlerischen Praxis auf das Romatum gestützt und es vereinnahmt haben.

Die Stimmen der Roma wurden marginalisiert

Die Themen, Ideen, Bilder und Praktiken der Sinti und Roma sind zwar in zahlreichen Kulturinstitutionen Europas sichtbar, die Roma als kulturelle AkteurInnen wurden jedoch unsichtbar gemacht. Die Tantiemen und Profite, die sich aus der künstlerischen und intellektuellen Produktion ergeben, haben sich Nicht-Roma angeeignet. Die Stimmen der Roma, Roma-KünstlerInnen, Intellektuelle, KulturpoduzentInnen und AutorInnen wurden in der Kultur marginalisiert, die sie geschaffen haben: von Flamenco zu Balkan Brass, von Oper zu Ballet und „Zigeuner“-Jazz, von der Medizin zur Psychoanalyse oder Storytelling, von der Malerei zur Fotografie und zum Film.

Auf den Gebieten der Kunst und Kultur hat der strukturelle Ausschluss zur Aufrechterhaltung von Stereotypen und der Stärkung des Rassismus geführt, mit denen Roma und Sinti seit Jahrhunderten konfrontiert sind. Fernsehsendungen wie die britische Dokumentarserie My Big Fat Gypsy Wedding verstärken noch das angebliche Anderssein und den Exotismus, durch die sich Mainstream-Darstellungen von Sinti und Roma auszeichnen, dasselbe trifft auf Opern wie Carmen zu. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür sowohl in klassischer als auch in populärer Musik, in der Malerei, die WahrsagerInnen darstellt , Wohnwagen (Vincent van Gogh) oder „typische“ Romnija (Robert Henri). Diese Darstellungen wiederum speisen Strukturen der Gewalt und Ausgrenzung, die Sinti und Roma tagtäglich erleben. Viele Sinti und Roma haben selbst keine Vorstellung von der Geschichte der Verfolgung oder von der lebendigen intellektuellen, künstlerischen Produktion, die zentral für die Definition von Roma und Sinti sind.

Die Roma-Institutionen, Organisationen und Produktionen in Berlin wurden von Sinti und Roma geschaffen und sind Teil eines größeren Netzwerks von Sinti- und Roma-Stimmen, Institutionen und WissensproduzentInnen, das sich von Budapest nach Skopje, von Paris nach Kiew, New York, Rio de Janeiro, Durban, Alicante, Buenos Aires und darüber hinaus erstreckt.

Ein Prozess der Neubewertung und Wiederaneignung von Geschichte

ERIAC will mithilfe der Künste, die Geschichtsschreibung und der Medien das Selbstwertgefühl von Roma stärken und die negativen Vorurteile der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Sinti und Roma abbauen. Indem ERIAC Sinti- und Roma-KulturproduzentInnen unterstützt, aufbaut und vernetzt, ist es Teil dieses größeren Prozesses der Neubewertung und Wiederaneignung der Geschichte und Kultur von Sinti und Roma in Europa.

Das RomArchive wurde als internationales digitales Archiv für Kunst der Sinti und Roma konzipiert – als „stetig wachsende Sammlung von Kunst aller Gattungen, erweitert um historische Dokumente und wissenschaftliche Texte“. Einer der wichtigsten Grundsätze des RomArchive ist die Selbstrepräsentation. Das Archiv bringt ein weites Spektrum an Kunstformen zusammen: von Fotografie und Film bis zu den bildenden Künsten, Musik, Tanz und Performance. Dazu kommen die Geschichte des Holocausts und die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma.

Diese und andere Kulturinstitutionen ermöglichen es, das Narrativ zu verändern und Sinti und Roma ins Zentrum unserer kulturellen Produktion zu stellen. Indem unsere Stimmen, unsere Präsenz und unsere Handlungsmacht innerhalb dieser führenden Kulturinstitutionen herausgestellt werden, ermöglichen es diese Orte und Projekte, dass unsere Geschichten erzählt werden und ein neues Konzept der europäischen Geschichte entwickelt wird, das über koloniale, marginalisierende Narrative hinausgeht.

Unser Verständnis von Europa muss sich ändern

Dies bedeutet einen deutlichen Wechsel weg von der hegemonialen Darstellung von Sinti und Roma, und zwar durch den Fokus auf die Stimmen von Sinti und Roma – einen Werkkorpus quer durch die Gattungen, von Sinti und Roma geschaffen, wird im Archiv vorgestellt und im politischen, kulturellen und historischen Kontext Europas dargestellt.

Die Konstruktion und Definition von Europa – die Definition dessen, was es bedeutet, europäisch zu sein – wurde durch eine Verleugnung der europäischen Geschichte und Kultur der Sinti und Roma möglich. Im aktuellen historischen Moment ist deshalb ein Neudenken Europas, der Wissensproduktion und der Künste notwendig.

Es ist zu hoffen, dass so Platz geschaffen wird für die Narrative der Sinti und Roma, Narrative des Andersseins und der Vielfalt, der Reichhaltigkeit und Schönheit des Multikulturellen, wie auch eine Abrechnung mit der Gewalt und Zerstörung des kolonialen Projekts, des national(istisch)en Projekts und des Projekts des Weiß-Seins, das sich in dessen Zentrum befindet.

Dies ist es, was Dekolonialisierung bedeuten könnte, echte Dekolonialisierung, die den Anspruch des Andersseins ernst nimmt. Mit unseren Geschichten, unseren Narrativen, unserer künstlerischen und kulturellen Praxis und unserem Wissen beanspruchen wir unseren Platz in Europa und in der Welt als Sinti und Roma. Als BürgerInnen unserer Nationen, Europas und der Welt.

Übersetzung: Wilhelm von Werthern

  • Antidiskriminierung
  • Gleichberechtigung
  • kulturelle Teilhabe
  • kulturelle Vielfalt
  • Antirassismus