Queerversity – die Anerkennung der Differenz des Differenten in der Diversität
02.07.2018
Was bedeutet es, aus queerer Perspektive über kulturelle Teilhabe nachzudenken? Wie lässt sich Teilhabe so konzipieren, dass Anerkennung nicht auf Sichtbarkeit verengt oder gegen Umverteilung ausgespielt wird? Queerversity, entworfen als Alternative zu neoliberal geprägten Diversitätspolitiken, stellt eine mögliche Antwort dar.
Von: Antke Engel
Sicherlich geht es queerer Politik darum, Artikulationen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in Kunst, Kultur und Medien zu entwerfen. Und zwar nicht nur, um auf diese Weise Anerkennung zu finden, sondern auch, um die vorgebliche Normalität von Heterosexualität und Zwei-Geschlechter-Ordnung ihrer Selbstverständlichkeit zu entheben. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, hierbei Geschlecht und Sexualität nicht von anderen Dimensionen sozialer Differenzkonstruktion zu entkoppeln. Sowohl bei Darstellungsfragen als auch bei Zugängen zum Kulturbetrieb, gilt es, das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher sozialer Faktoren zu erfassen, die Barrieren errichten und bestimmen, wer als Kulturproduzent*in gilt und Förderungen erhält.
Queerness ist keine Identitätsposition, sondern eine Position der Identitätskritik
Wenn queer als praktische Formel für LSBTIA+ (lesbisch_schwul_bi_trans_inter_asexuell_usw.) verwendet wird, produziert dies Missverständnisse und strategische Fehlentscheidungen. Queerness ist keine Identitätsposition, sondern eine Position der Identitätskritik. Statt Rechte und Anerkennung für unterdrückte Minderheiten zu fordern, problematisiert queere Politik die Funktionsweisen der Dominanzgesellschaft. Dies bezieht sich auf Machtprozesse, die über das Zuschreiben von Identität (labeling) oder Andersheit (othering) und entsprechende Ausschlüsse, Grenzziehungen und „WIR-Bildungen“ (Kategorisierungen) funktionieren. Es meint jedoch auch Hierarchiebildungen und Umverteilungen nach oben, wie sie für neoliberale Verhältnisse charakteristisch sind. Welche Prozesse und Strukturen machen sich Geschlecht und Sexualität zu Nutze, um Integration an Bedingungen zu knüpfen? Was stützt die Wirkungsmacht der Normalität und damit einhergehender Privilegien?
Wenn symbolische oder materielle Förderungen entlang von Identitätskategorien vergeben werden, geht die Aufmerksamkeit für die Machtdynamiken und Ungleichheitsverhältnisse verloren, die sich im Kulturbetrieb auf dem Hintergrund gesellschaftlicher und globaler Asymmetrien entfalten. Identitäts- und Diversitätspolitiken suggerieren, dass manche Identitäten und Lebensweisen idealtypische Verkörperungen von Queerness sind, die wahlweise als Avantgarde oder als prädestinierte Opfer ins Spiel gebracht werden, um dann in ihrem Namen Integrationsforderungen zu erheben. Wer nicht in das entsprechende Bild passt, z.B. weil Rassisierung oder Normen körperlicher, mentaler oder sozialer Befähigung dieses durchkreuzen, fällt heraus.
Alternativ dazu kann das Interesse auf Praxen des Queering – des Durchkreuzens oder Unterlaufens der Normalität – verschoben werden, die zeit- und kontextgebunden sind und daraufhin befragt werden können, wie sie konkrete Machtverhältnisse verstärken oder abbauen. Fördern oder behindern sie die Veränderung von Strukturen, sozialen Beziehungen und Selbstverhältnissen? Geschlecht und Sexualität bleiben durchaus im Blick. Doch mit dem Fokus auf queere Praxen heißt es nicht mehr, „wer ist queer?“, sondern wie können wir Geschlecht und Sexualität so denken und leben, dass wir uns nicht in den Vorgaben normativer Heterosexualität, rigider Zwei-Geschlechter-Ordnung oder rassistischer Homonormativität verfangen?
Differenz als Besonderheit fördern, aber als soziale Ungleichheit zurückzuweisen
Statt „wir/ihr-Muster“ zu bedienen und Unterschiede in Kategorien oder Stereotypen zu fassen, versucht Queer neue Formen der Differenz auszudrücken – und ist damit ein Projekt ästhetischer Praxis und kultureller Politik. Die doppelte, und in sich durchaus spannungsreiche Herausforderung besteht darin, Differenz als Besonderheit zu fördern, aber zugleich Differenz als soziale Ungleichheit zurückzuweisen. Angesichts dieser Spannung unterlaufen queere kulturelle Politiken den Einsatz von Diversität als leere Formel der Imagepflege, denn Widersprüche, Konflikte und Machtauseinandersetzungen können nicht umgangen werden. Leila Haghighat und Nina Simon haben unter dem Titel „Diversity sells“ prägnant herausgearbeitet, wie Vielfalt im Kultursektor und in der kulturellen Bildung als Ressource ausgenutzt wird und einer „Politik des Sich-Gut-Fühlens“ (Sara Ahmed) dient, ohne dass Machtverhältnisse wahrgenommen geschweige denn verändert würden. Denn diejenigen, die Diversität fördern, brauchen sich nie als Teil der Diversität verstehen, sondern bleiben die unmarkierte Norm.
Entsprechend legt Joshua Kwesi Aikins im Gespräch mit Elisabeth Gregull den Fokus darauf, Bedingungen für tatsächlich strukturverändernde Maßnahmen für Kulturinstitutionen zu formulieren. Um zu verstehen, wo Barrieren des Zugangs und der Beteiligung vorliegen und wie sie wirken, hat Aikins einen sehr einfachen Vorschlag und klare Fragen: „Von denen, die nicht da sind oder nur prekär dabei sind, kann man am besten lernen, was die Zugangsbarrieren sind.“ Um Benachteiligungen systematischer zu erfassen, sei es allerdings notwendig, Diskriminierungsdaten zu erheben – und dabei trete leider das Dilemma auf, dass die Begriffe, mit denen Diskriminierung erhoben wird, wie „Zwangsjacken“ funktionieren. Die Komplexität, Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit sozialer Erfahrungen könne sie nicht erfassen.
Hier deutet sich bei Aikins etwas an, was zum Kern queerer Politik gehört: Wie lassen sich Differenzen, die sich der Kategorisierung entziehen, als politische Kräfte verstehen? Es gilt zwei unterschiedliche Problemlagen gleichzeitig bewältigen: Einerseits Verteilungskämpfe, die durchaus nicht nur auf ökonomische Ressourcen, sondern auch auf Definitions- und Handlungsmacht aus sind. Andererseits Konflikte um Dimensionen des Differenten, die sich dem Verstehen entziehen, die für Konfusion sorgen und entlang gängiger Interpretationsraster nicht leicht verdaulich sind.
Queerversity – politisch, ethisch und ästhetisch
Im Unterschied zu Diversitätspolitiken, die sich an einem Katalog klassifizierter Differenzen orientieren, stärkt Queerversity die Irritation oder Uneindeutigkeit dieser Klassifikationen und unterbricht gängige Normalitätsvorstellungen. Queerversity ist das Einführen der Differenz des Differenten in die Diversität. Konflikthafte Vielfalt (Heterogenität), veränderliche Vielgestaltigkeit (Multiplizität) sowie undefinierte Andersheit (Alterität) reklamieren kulturelle Teilhabe und politischen Raum. Angesichts dessen zielt Queerversity darauf ab, eine Enthierarchisierung von Verschiedenheit voranzutreiben und die Logik von Norm und Abweichung zu unterminieren.
Eine Orientierung an Queerversity lässt Macht- und Herrschaftsanalysen keineswegs obsolet werden. Während neoliberale Diversitätskonzepte Vielfalt umarmen und den Umgang mit Differenz an „Nützlichkeit/Vernutzbarkeit“ orientieren, zielt der Queerversity-Ansatz darauf ab, Machtkonflikte auszutragen – solche, die aus widerstreitenden Meinungen, Werten und Wünschen resultieren, wie auch diejenigen, die durch komplex verschränkte Herrschaft definiert sind.
Queerversity ist also nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als politisches Korrektiv, als ethische Haltung und als ästhetische Strategie zu verstehen. Als politisches Korrektiv führt Queerversity in das Feld staatlicher oder institutioneller Praxis ein Moment permanenter Selbstkritik und kategorialer Irritation ein. Hier knüpfen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitiken an, um den Abbau von Barrieren und die Umverteilung von Macht und Ressourcen zu forcieren. Als ethische Haltung in sozialen Beziehungen lädt Queerversity ein, eine Lust an der Irritation zu entwickeln. Diese erwächst aus der Erfahrung, dass die Begegnung mit anderen nie ganz unseren Erwartungen entspricht und Überraschungen birgt, die unsere Selbst- und Fremdbilder wie unsere Begehrensweisen herausfordern.
Dem Konflikthaften dieser Erfahrungen anders als mit Aggression, Kontrolle oder Gewalt zu begegnen, ist das ethische Anliegen, dass sich auch noch mit dem Anspruch auf Enthierarchisierung koppeln lässt. Als ästhetische Strategie lenkt Queerversity die Aufmerksamkeit darauf, dass sich innerhalb (anerkannter ebenso wie diffamierter Formen) von Identität und Differenz unweigerlich auch Dimensionen von Ambiguität, Vieldeutigkeit und Unverständlichkeit entfalten. Kunst und Kulturproduktion sind ideale Bereiche, um diesen Ausdruck zu verschaffen.
Der Queerversity-Ansatz schafft politischen Raum, der niemanden aus der Differenz entkommen lässt. Es gibt keine unmarkierte Norm mehr und die Andersheit aller gewinnt ein Anrecht auf kulturelle Teilhabe.
Weitere Informationen:
Engel, Antke: Lust auf Komplexität. Gleichstellung, Antidiskriminierung und die Strategie des Queerversity, in: Feministische Studien (1) 2013: 39-45.