„Sichtbarer, greifbarer, und vor allem menschlicher“
21.08.2018
Fotos, Videos, Zeitzeug*innen-Interviews und 3D-Scans: Mehr als 1000 Exponate über die Geschichte der Migration in Deutschland sind seit Juli online im neuen „Virtuellen Migrationsmuseum“ zu sehen. Sandra Vacca, kuratorische Leiterin des Projekts, spricht im Interview über die Notwendigkeit, Teilhabe an Geschichte zu erleichtern und Stereotype rund um das Thema Einwanderung abzubauen.
In Deutschland sind die Themen „Migration“ und „Einwanderungsgesellschaft“ oft Inhalt kontroverser Diskussionen. Welchen Beitrag zu dieser Debatte kann das neue Virtuelle Migrationsmuseum leisten?
Sandra Vacca: Die Komplexität und Vielfalt der Migrationsgeschichte Deutschlands ist den meisten Menschen nicht bekannt. Derzeit bekommt die Debatte eine starke Schlagseite, da bestimmte Aspekte und Perspektiven ungehört bleiben oder in Vergessenheit geraten. Mit vielen Exponaten und Zeitzeug*inneninterviews präsentiert das Migrationsmuseum nicht nur Fakten und historische Informationen, sondern baut auch Mythen und Stereotypen ab. Es wird klar – nicht zuletzt mit den #MeTwo-Beiträgen – dass die Stimmen von Migrant*innen und ihre Nachfahr*innen bisher kaum gehört wurden. Dies wollen wir ändern. Anhand von Interviews kommen sie zu Wort und berichten über ihre Erfahrungen, positiv sowie negativ. Wir machen damit einen Schritt in Richtung einer inklusiven und multiperspektivischen Erinnerungskultur. Das Museum soll das Thema Migration sichtbarer, greifbarer, und vor allem menschlicher machen.
Welche Exponate des Virtuellen Migrationsmuseums sind aus Ihrer Sicht besonders beispielhaft für den „deutschen“ Umgang mit dem Thema Einwanderung?
Die rund 1000 Exponate verdeutlichen, dass Migrationsgeschichte unter vielen Facetten betrachtet werden kann und soll – und dass eine Migrationsgesellschaft nicht immer in gleicher Weise mit Migration und Migrant*innen umgeht. Das symbolisiert beispielsweise ein Rettungsring der Cap Anamur, der als Exponat in der Ausstellung vorkommt. Mit dem Schiff Cap Anamur wurden ab 1979 tausende sogenannter vietnamesischer Bootsflüchtlinge gerettet und nach Deutschland gebracht. Demgegenüber steht ein Interview eines vietnamesischen Opfers des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen. Hier treffen Geschichten des Ankommens und Erfahrungen der Ausgrenzung – in diesem Fall sogar der rassistischen Gewalt – aufeinander. Ein weiteres Beispiel ist ein Spirometer, ein medizinisches Gerät zur Messung des menschlichen Luftvolumens, das in den Anwerbestellen im Ausland eingesetzt wurde. Das Gerät verdeutlicht, in welcher Art und Weise Arbeitsmigrant*innen schon in den Herkunftsländern durch eine gründliche, häufig als erniedrigend empfundene Gesundheitsuntersuchung selektiert wurden. Die Exponate wirken wie Schlaglichter für eine bestimmte Erfahrung, eine bestimmte Zeit oder politische Praxis.
Wie ist die Idee zu diesem Projekt entstanden? An welche Zielgruppe richtet es sich?
Unser Ziel war es, ein „reales“ Migrationsmuseum zu schaffen. Wir sind auf einem guten Weg, aber das dauert seine Zeit. Nicht jede*r kann nach Köln kommen und dort die physische Sammlung des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland (DOMiD e.V.) hautnah erleben. Daher haben wir eine Lösung gesucht, die Exponate schnell und ansprechend so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Es lag auf der Hand, dass wir dafür das Medium Internet nutzen. Es gehört für die meisten Menschen zum Alltag, auch für die, die normalerweise nicht den Weg in ein Museum finden würden. Wir sind überzeugt, dass das Museum sowohl in Schulen als auch in der Erwachsenenbildung zum spannenden Unterrichtsbegleiter werden kann.
Wie gestaltete sich die Umsetzung und Übertragung analoger Exponate ins Digitale und wer war daran beteiligt?
Mit der Bundeszentrale für politische Bildung hatten wir einen guten Partner, der das sehr komplexe Projekt über die gesamte Entwicklungsphase gefördert hat. Die Programmierer*innen und Designer*innen einer Digitalagentur entwickelten für uns eine virtuelle Welt und ein Content-Management-System, mit dem wir jederzeit neue Exponate einpflegen können. Parallel ließen wir 3D-Scans von ausgewählten Objekten der Sammlung von der Abteilung „Digitalisierung von Kulturerbe“ des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung fertigen. Andere Objekte fotografierten wir neu – auch da wurde viel Zeit und Herz investiert. Denn jedes einzelne Objekt symbolisiert eine Geschichte, auch wenn das Objekt an sich erst einmal recht banal scheint. Außerdem wurden viele Dokumente neu gescannt und anonymisiert – das war sehr zeitaufwändig.
Was sind aus Ihrer Sicht die Vorteile und Nachteile einer Digitalisierung von Museumsexponaten?
Die Vorteile der Digitalisierung sind vielfältig. Zum einen freuen wir uns sehr, dass unsere Exponate und ihre vielen Geschichten in die Welt transportiert werden. Dabei kann das Virtuelle Migrationsmuseum weltweit via Internetzugang erreicht werden, kostenlos und zu jeder Zeit. Das baut bereits viele Barrieren ab. Exponate können außerdem auf vielfältige Weise betrachtet werden: Manche Objekte lassen sich drehen, Fotos können ganz nah betrachtet werden, Broschüren werden in ihrer Gesamtheit präsentiert. Es hat schon etwas Magisches, sich vorzustellen, dass sich ein Museum überall hin mitnehmen lässt. Meines Erachtens hat dieser Ansatz wenige Nachteile – wenn man von Anfang an die technische und inhaltliche Nachhaltigkeit des Projekts bedenkt.
Welche Ratschläge würden Sie einem Museum geben, dass ein ähnliches Projekt zur Digitalisierung von Exponaten plant?
Das Wichtigste ist es, online wie auch offline, an das Publikum zu denken: Was wollen wir anbieten, was nicht? Wofür wird digitalisiert? Soll es eine Datenbank oder eine Ausstellung werden? Ist die Plattform intuitiv genug? Außerdem sollte man immer an die Nachhaltigkeit denken: Wer kümmert sich langfristig um das Projekt? Ist es erweiterbar, kann es noch wachsen? Sind unsere Exponate lizenzfrei, können sie heruntergeladen werden oder gibt es Urheberrechtsfragen, die geklärt werden müssen? Die Rechtelage für die Online-Nutzung von Gemälden, Fotos und Dokumenten ist komplex und sollte sorgfältig im Vorfeld studiert werden. Mein letzter Ratschlag wäre: Viel Zeit einplanen und Mut haben! Digitalisierungen von Sammlungen wie das Virtuelle Migrationsmuseum sind keine reinen Abbildungen der Sammlung, sondern komplexe Vermittlungsprojekte mit dem Ziel, Zugang zu Kultur und Wissen zu erleichtern – auch das ist die Aufgabe der Museen.
Fragen: Ralf Rebmann (Redaktion)