„Die Barrieren im Kopf müssen fallen“

16.11.2018

Verschiedene Menschen bei Vortrag, gebärdend
Kulturelle Teilhabe für alle. Barrierefreie Kulturvermittlung mit <Platz da!> | Foto: Stefanie Wiens

Das Unternehmen < Platz da! > bietet barrierefreie Kulturvermittlung an und begleitet die inklusive Öffnung von Kultureinrichtungen. Im Interview berichten die Initiatorin Stefanie Wiens und Charlotte Röttger, Kulturvermittlerin bei < Platz da! >, über sinnliche Kunstwerke, gemeinsame Lernprozesse und einfache Formate, um Berührungsängste zwischen Hörenden und Gehörlosen abzubauen.

Was ist barrierefreie Kulturvermittlung und wieso ist sie wichtig?

Stefanie Wiens: Barrierefreie Kulturvermittlung will Barrieren, auf die Menschen im Kontext von Kunst und Kultur stoßen, mitdenken und möglichst abschaffen. Dazu kann beispielsweise gehören, dass Informationen über ein Kunstwerk nicht nur verbalisiert, sondern auch über ein Tastbild erfahrbar gemacht werden. Barrierefreie Kulturvermittlung ist maßgeblich, weil sie das in der UN-Behindertenkonvention formulierte Recht auf Zugang zu Kunst und Kultur für Menschen mit „Behinderung“ umsetzt [1]. Bei < Platz da! > bieten wir Workshops, Führungen oder auch künstlerische Interventionen in Kulturinstitutionen an, die von den Kulturvermittler*innen mit Behinderung durchgeführt werden und den Teilnehmer*innen vielfältige Zugänge bieten. Wir verfolgen das Ziel, nicht eine einzige Lösung für eine spezifische Zielgruppe zu finden, sondern inklusive Workshops oder Führungen für alle Menschen zu konzipieren. Sinnliches Lernen und neue Formate sind für alle spannend, also auch für Menschen ohne Behinderung.

Charlotte Röttger: Barrierefreie Kulturvermittlung bedeutet, diese Vermittlung so zu gestalten, dass alle die Möglichkeit haben, an Kultur teilzuhaben: nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund oder Familien mit Kindern oder Senior*innen. Ein Aufzug kommt nicht nur Rollstuhlfahrer*innen zugute, sondern auch Senior*innen mit und ohne Rollator oder jungen Familien, die dankbar sind, den Kinderwagen nicht tragen zu müssen. Von Texten in Leichter Sprache profitieren Kinder ebenso wie Menschen, die Verständnisschwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben.

Wie sieht die Arbeit von < Platz da! > konkret aus? Wer gehört zum Team?

Stefanie Wiens: Neben mir als Initiatorin gibt es ein Kernteam, das im Moment aus zwei Mitarbeiterinnen, Mirjam Ottlewski und Alena Kühn, besteht. Zudem gibt es fünf Kulturvermittler*innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Behinderungen, die von Anfang an, also seit Januar 2017, dabei sind. Sie sind als Lyrikrinnen, Erzieherinnen, Künstlerinnen – und wie beispielsweise Charlotte Röttger als Museumsmanagerinnen – das „Herz“ von < Platz da! >. Gemeinsam mit Mitarbeiter*innen der Kultureinrichtungen entwickeln wir barrierefreie Kulturvermittlungsformate und sind damit der Ausgangspunkt für den Änderungsprozess in den Institutionen. Die Kulturvermittler*innen bringen Themen ein, die für sie und ihre Communities wichtig sind und machen die Einrichtung damit attraktiv für neue Besucher*innen. Damit sind nicht nur Besucher*innen mit Behinderung gemeint, sondern auch Menschen, die sich von der neuen Art der Vermittlung angesprochen fühlen. Ergänzt wird dies durch Sensibilisierungstrainings und Seminare für die Mitarbeiter*innen der Einrichtungen.

Charlotte Röttger: Da ich zwei Cochlea-Implantate (Hörprothesen) trage und medizinisch gesehen taub bin, habe ich die Zielgruppe der Gehörlosen und Schwerhörigen übernommen. Ich kenne ihre Bedürfnisse sowie die Barrieren, denen sie täglich begegnen. Die Hauptbarriere ist hier die Sprache und dadurch die Kommunikation. Man muss wissen, dass Gehörlose eine eigene Sprache haben. Hörende fragen oft nach dem Sinn von Gebärdensprachvideos und glauben, dass Gehörlose doch lesen oder zumindest Texte in Leichter Sprache verstehen könnten. So ist das allerdings nicht. Die Sprache der Gehörlosen ist visuell ausgelegt, Mimik und Gestik spielen eine zentrale Rolle. Selbst die Grammatikstruktur ist anders aufgebaut. Es gibt keine Deklinationen oder Zeitformen, wie in der deutschen Schriftsprache. Auch viele Ausdrücke, wie zum Beispiel eine „Fuhre Holz“ kennen viele Gehörlose nicht oder Fachbegriffe wie „Stigmatisierung“. Als Kind, damals noch ohne Cochlea-Implantate, musste ich Deutsch deshalb wie eine Fremdsprache lernen. Ich konnte Wörter und Ausdrücke bei einer Unterhaltung nicht einfach „aufschnappen“, wie es das hörende Kind macht.

Was motiviert Sie, sich als Kulturvermittlerin bei < Platz da! > zu engagieren?

Charlotte Röttger: Als Stefanie mich Anfang 2017 anrief und von ihrem Konzept erzählte, war ich sofort Feuer und Flamme. Mir war bewusst, dass barrierefreie Kulturvermittlung noch in den wenigstens Einrichtungen angekommen ist. Hier besteht viel Lernbedarf: Allein die Tatsache, dass man Schwerhörige nicht in einen Topf mit Gehörlosen werfen darf, ist nicht allen bewusst. So gibt es unterschiedliche Grade der Hörbehinderung, von „leicht“ bis zu „an Taubheit grenzend“ und dann „gehörlos“ bzw. „taub“, wie es viele Gehörlose lieber nennen. Meine Aufgabe sehe ich darin, die Mentalität der Gehörlosenkultur der hörenden Welt nahe zu bringen. Als Kulturvermittlerin versuche ich, Kulturinstitutionen die Bedeutung von Barrierefreiheit klar zu machen und andererseits Geschichte, Kunst und Kultur so zu vermitteln, dass alle Freude daran haben, mitzudiskutieren und sich austauschen zu können. Egal ob alt oder jung, ob mit oder ohne Behinderung.

Blinde Frau häkelt in Kunstausstellung
Sinnliches Kulturerleben - die Kulturvermittlerin Hildegard Wittur | Foto: Sandra Merseburger

Welche Erfahrungen machen Sie in den Kultureinrichtungen? Sind diese offen für Kritik und Veränderung?

Stefanie Wiens: Wir haben festgestellt, dass viele Kultureinrichtungen einen großen Bedarf an Beratung haben. In der konkreten Zusammenarbeit konnten wir bisher viele Ergebnisse und inklusive Lösungen erzielen. Beispielsweise übertrug Hildegard Wittur, die Kulturvermittlerin mit Lernschwierigkeiten, die künstlerische Strategie eines Kunstwerkes auf ihre Vermittlung und verband diese mit ihrer Kunst, dem Häkeln. Wichtig ist der Arbeitsrahmen, den wir gestalten: Durch unsere Sensibilisierungstrainings bauen wir Berührungsängste ab. Durch einen verlangsamten Ablauf und klare Regeln wird eine Kommunikation auf Augenhöhe möglich. Genauso wie in unseren Vermittlungsformaten gestalten wir auch die Beratung von Kultureinrichtungen nach dem Mehr-Sinne- und Mehrsprachigkeitsprinzip. Informationen werden also immer über mehrere sinnliche Kanäle und in mehreren Sprachen, zum Beispiel in Schwerer und Leichter Sprache, vermittelt.

Charlotte Röttger: Inklusion spielt in der heutigen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Ob die Einrichtungen bereit sind, diese umzusetzen, ist eine andere Frage und erste Ansätze scheitern oft an finanziellen oder organisatorischen Hürden. Selbst wenn man die Teilhabe aller Menschen grundsätzlich für wünschenswert hält, bedeutet dies nicht, dass Strukturen in den Institutionen von heute auf morgen verändert werden. Oder dass alle Behinderungen von Anfang an berücksichtigt werden. Barrierefreiheit bzw. Inklusion ist ein komplexes Thema und ein langwieriger Prozess, der für Kultureinrichtungen viele Fragen aufwirft: Wie geht man mit Museumsbesucher*innen um, die Texte in Leichter Sprache auf Aufstellungstafeln als Zumutung oder sogar als „Beleidigung“ empfinden? Ist es ausreichend, Senior*innen, die Hörgeräte nutzen, mit einem Audioguide zur Ausstellung auszustatten? Oder müssen wir, um Sprachverständnis zu gewährleisten, nicht nur an Laustärke, sondern auch an verständliche Inhalte denken?

Mitarbeiter*innen in Kultureinrichtungen berichten oftmals, dass ihr Arbeitsalltag kaum Zeit lässt, um sich über Barrierefreiheit Gedanken zu machen.

Stefanie Wiens: Aller Arbeitsalltag ist von Zeitdruck geprägt. Dieser unbewusste Standard, dass langwierigen Prozessen keine Zeit eingeräumt wird, gepaart mit einem Streben nach Perfektionismus und Messbarkeit [3], ist eine Belastung für die Mitarbeiter*innen. Wenn wir in der Beratung dann noch genau diese Arbeitsweise als Grund für gesellschaftliche Exklusion ansprechen, ist das für die Mitarbeiter*innen mitunter eine schmerzvolle Erfahrung. Sie sind der wichtigste Aspekt unserer Arbeit. Wir versuchen alle einzubinden und zu motivieren – egal ob sie den Wandel maßgeblich mitgestalten und vorantreiben wollen oder ihn zunächst ablehnen und bremsen. Im direkten Kontakt und Austausch mit den Kulturvermittler*innen und Expert*innen mit Behinderung gelingt dies in den meisten Fällen. Aktuell entwickeln wir bei <Platz da!> eine Zertifizierung, die nach Abschluss einer Beratungseinheit vergeben und spätestens nach zwei Jahren erneut überprüft wird. Klar ist: Ein Inklusionsprozess ist nie abgeschlossen.

Personen unterhalten sich angeregt
Sign Dating - Kommunikation mit Stift, Papier, Händen und Füßen. | Foto: Stefanie Wiens

Frau Röttger, eines Ihrer Vermittlungsangebote, das Sie im Rahmen von <Platz da!> entwickelt haben, nennt sich „Sign Dating“. Um was geht es genau?

Charlotte Röttger: „Sign Dating“ orientiert sich an „Speed Dating“ mit dem Unterschied, dass sich bei unserem Format Hörende und Gehörlose begegnen. Vor dem „Sign Dating“ geht man gemeinsam in eine Ausstellung. Wie beim Speed Dating sitzen sich dann je ein Hörender und ein Gehörloser gegenüber. Sie haben fünf Minuten Zeit, um über ein Thema der vorher erlebten Ausstellung zu diskutieren. Bevor es losgeht, klären wir über sensible Themen auf, geben einen Crash-Kurs im Fingeralphabet (Buchstabieren mit einer Hand) und zeigen die einfachsten Wörter der Gebärdensprache. Auf dem Tisch liegen Stifte und ein Blatt Papier. Diskutiert wird via Schriftkommunikation, oft auch mit Handbewegungen und natürlich mit Mimik. Nach fünf Minuten wird gewechselt und es wird ein neues Thema debattiert. Am Ende der „Dates“ sprechen wir über die Ergebnisse. Ein solches Format macht allen Beteiligten Spaß und hat einen wichtigen Nebeneffekt: Die Hemmungen fallen und die anschließende Kommunikation funktioniert besser. Sich erfolgreich auszutauschen, ob verbal oder schriftlich oder mit Händen und Füßen: Das ist Inklusion.

Was muss sich Ihrer Meinung ändern, damit barrierefreie Kulturvermittlung ein Teil des Leitbilds von Kultureinrichtungen wird?

Stefanie Wiens: Wir brauchen mehr Begegnungsräume für Menschen mit und ohne Behinderung. So können wir auf ein gesellschaftliches und barrierefreies Miteinander in der Schule, beim Sport, im Alltag, in Museen und in anderen Kultureinrichtungen hinwirken. Grundlage dafür ist jedoch eine Erweiterung des feststehenden Kulturbegriffes, eine Abgabe von Macht und Privilegien und eine kritische Analyse der Strukturen in klassischen Kultureinrichtungen. Diese Reflexion wünsche ich mir, insbesondere von Entscheider*innen in Kultureinrichtungen. Politisch braucht es aus meiner Sicht, ähnlich wie in Großbritannien, konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Eine Quote zur Erreichung von sogenannten Minderheiten für die führenden Museen, die bei Nichterfüllung zu einem Verlust der Finanzierung führen kann, könnte festgelegt werden. Förderprogramme der Kulturinstitutionen können dabei unterstützen, ein möglichst breites Publikum zu erreichen.

Charlotte Röttger: Dazu möchte ich einfach nur den Schlusssatz aus meiner Masterarbeit über Barrierefreiheit zitieren: Neben der finanziellen Unterstützung seitens der Politik, die dringend nötig ist, müssen vor allem die Barrieren in den Köpfen von uns allen fallen.

Fragen: Ralf Rebmann (Redaktion)

Fußnoten:

[1] Vgl. Theresia Degener (2009):Welche legislativen Herausforderungen bestehen in Bezug auf die nationale Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bund und Ländern? in: „Behindertenrecht“ Heft 2 / 2009 S. 34 – 51.

[2] Die Anführungszeichen verweisen auf die Meinung der Verfasserinnen, dass es sich bei „Behinderung“ um ein willkürliches Konstrukt handelt. Ähnlich wie bei der (De-)Konstruktion von „Mann“ und „Frau“ sei ein Nachdenken über und infrage stellen der Kategorien „Behinderung“ und „Gesundheit“ sinnvoll. Zentral erscheine hier insbesondere die Frage, wie sehr die sogenannten Gesunden die sogenannten Behinderten brauchen, um ihre „gesunde Normalität“ zu konstruieren. Vgl. auch Palmowski, Winfried & Heuwinkel, Matthias (2000): Normal bin ich nicht behindert! Wirklichkeitskonstruktionen bei Menschen, die behindert werden. Unterschiede, die Welten machen. Dortmund: borgmann publishing GmbH.

[3] Vgl. Kenneth Jones und Tema Okun (2001): White Supremacy Culture. From Dimantling Racism: A Worksbook for Social Change Groups[Zugriff am 29.10.2018].

INFO: <Platz da!> Barrierefreie Kulturvermittlung und Prozessbegleitung für Inklusion

Das einstige Pilotprojekt und heutige Unternehmen „< Platz da! > Barrierefreie Kulturvermittlung und Prozessbegleitung für Inklusion“ begann mit einem Stipendium: Stefanie Wiens erhielt im Jahr 2016 das Kunstvermittlungsstipendium des Kunstvereins nGbK (neue Gesellschaft für bildende Kunst). Sie entschied sich, das Stipendium an Kulturvermittlerinnen mit Behinderung weiterzugeben. Zu den Vermittlerinnen gehören: Patricia Carl, Katrin Dinges, Silja Korn, Charlotte Röttger und Hildegard Wittur. Zusammen entwickelte das Team von < Platz da! > ab Januar 2017 Kunstvermittlungsformate für Ausstellungen der nGbK. Das Feedback war sehr positiv und so sollte das Pilotprojekt verstetigt werden. Die Macherinnen entschieden sich für eine Bewerbung beim social impact lab Berlin und bekamen Ende 2017 das Gründungsstipendium zugesprochen. Heute berät Einrichtungen zu Barrierefreiheit und Inklusion in Berlin und setzt gemeinsam mit Kooperationspartnern verschiedene künstlerisch-inklusive Projekte um.

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