Blinde Fotografie: Innere Bilder
05.02.2019
Blinde Fotograf*innen: Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Ein Fotostudio in Berlin zeigt, dass sehbehinderte Menschen ganz selbstverständlich visuelle Kunst schaffen.
Von: Alice Lanzke
Das Profil der Frau liegt im Halbdunkel. Zu ihrer Linken zeichnen blaue Strahlen zitternde Blitze in den schwarzen Hintergrund, während zu ihrer Rechten gelb-rötliche Lichtkringel aufsteigen. Ihren Rücken ziert eine Tätowierung, zu der eine Hand verschlungenen Linien aus Licht zeichnet. Der melancholische Blick der Frau, das Dunkel der Umgebung und die Hand des gesichtslosen Fremden schaffen ein intim wirkendes Bild und tatsächlich nennt Fotografin Susanne Emmermann die Aufnahme im Gespräch „Zärtliche Geste“.
Das Foto mit seiner rätselhaften Stimmung wirft bei Betrachter*innen unweigerlich Fragen auf –vor allem mit dem Wissen, dass die Künstlerin erblindet ist. Gemeinsam mit Gerald Pirner, Mary Hartwig und Silja Korn hat Susanne Emmermann im Januar unter dem Titel „Was du nicht siehst. edition 2“ in der Galerie Kungerkiez in Berlin ausgestellt. Abgerundet wurde die Schau durch Workshops und Portraitsitzungen mit den blinden Fotograf*innen. Visuelle Künstler*innen, die ihr Subjekt nicht oder kaum noch sehen können: Diese Kombination macht unweigerlich neugierig. Doch die Ergebnisse, die im Berliner „Fotostudio für Blinde Fotografen“ entstanden sind, haben keine geringere künstlerische Kraft als die von Sehenden. Da sind etwa die „Sonnenblumen bei Nacht“ von Silja Korn, welche die immer gleiche Blume in unterschiedlich farbigem Licht zeigen. Das Ergebnis wirkt wie der Vertreter einer düsteren Pop-Art. Ebenfalls von Korn stammen zwei Aufnahmen, denen fast etwas Religiöses anmutet: „Metamorphose“ und „Inkognito“. Letzteres das Schwarz-Weiß-Portrait eines Mannes, dessen Konturen schraffiert ineinander zu laufen scheinen. Auf diese Weise entsteht ein ganz eigener, vergänglich-mystischer Effekt.
Gerald Pirner hat sich indes für seine Serie von der griechischen Mythologie inspirieren lassen: „Medea“ etwa bildet eine statuenhafte Frau ab, „Chariklo II“ zeigt ein Model mit geschlossenen Augen, das an eine Büste erinnert. In den Aufnahmen von Mary Hartwig scheinen die Portraitierten wiederum hinter gesprungenem Glas zu stehen, was eine eigentümlich fragmentierte Wirkung entfaltet. Ein anderes Bild von ihr zeigt eine liegende Frau, die Lichtreflexe in ein Gefieder zu kleiden scheinen.
Malendes Licht
So unterschiedlich die Sujets der vier Fotograf*innen sind, benutzen sie für die in dieser Ausstellung gezeigten Bilder doch alle die gleiche Technik: das Light Painting. Bei dieser fotografischen Methode aus der Langzeitbelichtung werden Aufnahmen in der Regel bei Dunkelheit gemacht. Gleichzeitig wird mit ein oder mehreren Lichtquellen gegen die Kamera geleuchtet, so dass flächige Linien entstehen – ein wenig wie der Effekt, den man vom Bewegen einer Wunderkerze kennt. Eine berühmte Vertreterin des Light Painting ist Sonia Soberats: Die gebürtige Venezolanerin lebt in New York, ist Fotografin – und blind. Bekannt wurde sie einem breiteren Publikum durch die Dokumentation „Shot in the Dark“ des deutschen Regisseurs Frank Amann. Soberats sagt darin: „Wie großartig Licht ist, verstehst Du erst, wenn Du erblindet bist.“
Im Frühjahr 2017 kam Soberats nach Berlin, um einen Workshop zum Light Painting zu geben. Hier lernten auch die vier Fotograf*innen der Ausstellung die Technik kennen, darunter Susanne Emmermann. Auf die Frage, warum sie fotografiert, sagt sie: „Um mich zu erinnern – genau wie Sehende.“ Zudem wolle sie auf der Ebene des Fotos auf Augenhöhe mit Sehenden kommunizieren. Vor dem Fotografieren habe sie ein Bild im Kopf und postiere dann Models oder Gegenstände entsprechend. Sie benutze unterschiedliche Lichtquellen wie Taschenlampen, Kerzen oder Wunderkerzen, um die markanten Effekte zu erzeugen. Eine Assistentin erzählt Emmermann, was auf dem Display der Kamera zu sehen sei: „So taste ich mich langsam an das Bild heran, das ich im Kopf habe.“ Wenn sie fotografiere, fehle ihr zusätzlicher optischer Input und so auch die „optische Reizüberflutung“, die damit einhergehen könne.
Am Anfang der Widerspruch
Wie ihre Kolleg*innen behandele Emmermann das Licht als Material, sagt Karsten Hein: „Welche Härte, welche Weiche, welche Kratzigkeit hat es?“ Der Fotograf hat das „Fotostudio für blinde Fotografen“ im vergangenen Jahr mitinitiiert, zuvor rief er bereits einen Fotoblog für Blinde ins Leben (https://bildbeschreibungen.com). 2011 hatte Hein ein großes Portraitprojekt begonnen, in dessen Rahmen er Blinde fotografierte. „Dabei habe ich festgestellt, dass es vor allem um das Sprechen geht.“ Als er einem Portraitierten erklärte, wie er dessen Gesicht sehe, habe dieser die Beschreibungen aufgesogen – und Hein begann, Portraitfotografie für Blinde anzubieten. Schließlich kamen die ersten Anfragen aus dem Kreis der Abgebildeten, ob er nicht auch Fotografiekurse für Blinde geben könne. Hein, der damals an der Universität unterrichtete, wagte einen Versuch: Die Studierenden assistierten den Kurs-Teilnehmer*innen. „Fotografie mit Blinden ist immer Teamwork“, führt Hein aus. Es brauche immer Assistentin*innen, welche die Bilder auf dem Display beschrieben. „Aber es sind dennoch nicht die Assistent*innen, die die Bilder machen“, betont er. Das sehe man immer dann, wenn ein*e Assistent*in wechsele.
Hein ist sich bewusst, dass es etwas Sensationelles hat, wenn blinde Menschen fotografieren – tatsächlich war auch die Ausstellung in der Galerie Kungerkiez sehr gut besucht. „Die Leute kommen, weil ‚Blinde Fotografen‘ drübersteht, aber wenn sie dann da sind, will man eigentlich nicht über Blindheit sprechen“, sagt er. Doch am Anfang stehe immer ein Widerspruch da: „Blinde können nicht sehen, die Kamera aber schon.“ So werde noch einige Zeit vergehen, bis die Qualität der Bilder für sich spreche und blinde Fotografie selbstverständlich werde. Für Hein ist klar, dass die vier ausstellenden Fotograf*innen Künstler*innen sind. Umso mehr ärgere ihn, wenn etwa Journalist*innen fragten, „wie wir den armen blinden Menschen helfen – darin finden wir uns nicht wieder“. Entsprechend werde in den gemischten Foto-Workshops auch kein Unterschied zwischen Sehenden und Blinden gemacht.
Reflektion des eigenen Sehens
Hein selbst hat durch die Arbeit mit den blinden Künstler*innen viel gelernt: „Die eigene Wahrnehmung nimmt jeder als selbstverständlich hin. Das ist zwar wichtig, hat aber den Nachteil, dass wir einige Dinge eben nicht wahrnehmen.“ Das zeige sich schon, wenn in den Seminaren zwei sehende Menschen Bilder beschrieben: „Beide sehen ganz unterschiedliche Dinge.“ Entsprechend hinterfrage man das eigene Sehen.
Für Hein geht es in der blinden Fotografie darum, dass die Künstler*innen ihre eigene Vorstellungswelt und ihre inneren Bilder umsetzten - ähnlich, wie es auch Susanne Emmermann ausgedrückt hat: „Meine Fotos entstehen als Idee davon, was ich sagen möchte.“ Zudem gebe ihr die Fotografie die Möglichkeit, nicht als Behinderte gesehen zu werden. Tatsächlich vergisst man in der Ausstellung schnell, dass die gezeigten Fotos von nicht sehenden Menschen kreiert wurden, sondern betrachtet einfach eine Schau unterschiedlicher Künstler*innen – und wie die meisten von ihnen hat auch Susanne Emmermann vor allem einen Wunsch: „Dass unsere Werke auch noch an anderen Ausstellungsorten gezeigt werden“.
Service:
Mehr Informationen zum „Fotostudio für Blinde Fotografen“ und zu den Workshops gibt es auf der Facebook-Seite: https://www.facebook.com/FotostudiofuerBlindeFotografen/
Die Fotos der Künstler*innen lassen sich nach vorheriger Anmeldung im Fotostudio in der Werkstatt für interkulturelle Medienarbeit, WIM e.V. (http://wim-berlin.de/) besichtigen. Anmeldungen per Mail an