Bühne frei für eine offene Gesellschaft
11.04.2019
Inklusiv, generationsübergreifend, mit Mut zur Improvisation. All dies vereint das Theaterstück „So nicht aber so schon“, ein Bühnenprojekt der „Golden Gorkis“, dem Senior*innen-Ensemble des Gorki Theaters in Berlin, und den Jugendlichen des Ensembles Neukölln 11.
Von: Sophie Diesselhorst
„Wie fandet ihr das eigentlich, als ihr erfahren habt, dass ihr mit uns alten Leuten Theater spielen sollt?“, fragt eine der „Golden Gorkis“ in die Runde, als sie alle zusammen um den gedeckten Tisch auf der Bühne des kleinen Studios im Berliner Maxim Gorki Theater sitzen. „Bisschen komisch, aber nicht so schlimm“, antwortet eine Schülerin und erntet Lacher von ihren Mitspieler*innen und aus dem Publikum.
Ehrlichkeit zählt in dieser außergewöhnlichen Koproduktion, in der die Senior*innen-Spielgruppe des Maxim Gorki Theaters in Berlin, die „Golden Gorkis“, auf die Jugend-Theatergruppe „Neukölln 11“ treffen, die sich 2009 in der „Schule am Bienwaldring“ gegründet hat und aus Schüler*innen im Alter von 12 bis 18 Jahren mit Lernschwierigkeiten oder mit Behinderungen wie z.B. Autismus oder Down-Syndrom besteht. Elf von ihnen stehen nun, Ende März 2019, zusammen mit 13 Golden Gorkis auf der Bühne. Drei Tage hintereinander spielen sie im Gorki Studio ihre Produktion „So nicht aber so schon“, an der sie seit Oktober 2018 gemeinsam geprobt haben.
Wobei „proben“ eigentlich das falsche Wort ist. Erfunden haben sie ein knapp einstündiges Theaterstück, das ihrem Zusammenspiel einen Rahmen gibt und viel Raum für Improvisation lässt. Am Bühnenrand sitzt als Konstante der Cellist Frank Wolff, der mal einzelne kratzende und fiepende Töne spielt, eine Grundatmosphäre herstellt, mal wild drauflos musiziert und Tanzszenen heraufbeschwört, die die Sprechszenen verbinden. Die Szenenfolge wird außerdem durch Requisiten bestimmt, die hervor- und weggezaubert werden müssen: ein Spiegel, in dem die Eiskönigin ihr Ebenbild bewundert; eine Papiertüte, die eine Golden Gorki-Spielerin sich aufsetzt, um kurz die Hexe zu sein, von der ihre jugendliche Mitspielerin Ece gestern Nacht geträumt hat. Der Tisch, der zu Anfang gedeckt wird und an dem zum Schluss Äpfel geschnitten werden, die dann im Publikum verteilt werden.
Eine Repräsentation der Repräsentation
Sie erzählen nicht eine Geschichte mit klar erkennbaren Figuren, sondern lassen die Zuschauenden teilhaben an ihrem Zusammenspiel, das sich die Freiheit bewahrt, sich jederzeit selbständig zu machen. Absprachen werden eingehalten, weil man gelernt hat, aufeinander zu achten. Als Titos, die eigentlich Frederika heißt, der Eiskönigin einen Heiratsantrag macht, vergisst sie zu sagen, dass sie die Eiskönigin liebt. Das Publikum lacht, als die Eiskönigin sie darauf hinweist, und Titos/Frederika sagt: „Hört auf!“ Lachen stört die Konzentration, die die Spieler*innen brauchen und deshalb auch vom Publikum verlangen dürfen – von dessen Gunst ihre Spielbegeisterung aber keinesfalls abhängig ist.
Unübersehbar ist die Aufmerksamkeit, die die Jungen und die Älteren füreinander haben. Sie wird in „So nicht aber so schon“ symbolisiert von der Live-Kamera, an der sich mehrere Spieler*innen abwechseln und ihren jeweiligen Blickwinkel aufs Bühnen-Szenario vergrößern: die Repräsentation der Repräsentation. Aber was wird eigentlich auf der Bühne repräsentiert? Abgesehen von Ausflügen ins Fiktive wie Titos' Heiratsantrag an die Eiskönigin treten die Spieler*innen in den meisten Szenen als sie selbst auf – aber die Erzählung der eigenen Geschichte ist immer verbunden mit der Neugier auf die Geschichte dessen, der gerade zuhört. Als Gruppen repräsentieren sie die, die häufiger von Ausschlüssen betroffen sind, die weiter weg sind von gesellschaftlichem Einfluss, politischer Macht, und damit auch die, denen weniger zugehört wird. Doppelt inklusiv ist die Koproduktion dieser beiden Gruppen, aber zunächst standen auch hier die Unterschiede im Vordergrund.
Dramaturgin Veronika Gerhard erzählt aus dem Probenprozess: Anfangs seien die Impulse eher von den Golden Gorkis gekommen, die mehr Lebens-, aber auch mehr Theatererfahrung haben als die Jugendlichen. Die Gruppe existiert seit 2009, viele sind von Anfang an dabei. Dann habe sie eine „Impuls-Umkehrung“ initiiert, eigentlich als Experiment, sagt Veronika Gerhard – und dabei ist es im Endeffekt geblieben, so dass der Anstoß zu jeder Szene von jugendlichen Spieler*innen kommt.
Zwei Institutionen treffen aufeinander
„Mit dem Zusammenspiel der Goldis und der Neuköllner trafen auch die zwei Institutionen Staatstheater und Förderzentrum aufeinander, die zu Beginn unterschiedlich in ihrem Theaterverständnis und ihrer Arbeit agierten“, formuliert es Friederike Jentsch, eine der Lehrerinnen in der Schule am Bienwaldring, die 2009 die Theatergruppe Neukölln 11 ins Leben gerufen haben. Für „So nicht aber so schon“ hat sie die Choreographien erarbeitet. Die Spielleitung übernahm Ron Rosenberg, der die Golden Gorkis anleitet, aber auch vorher schon mit Neukölln 11 gearbeitet hat. „Angefangen haben wir, indem wir zunächst in kleineren Gruppen in der Schule zusammengekommen sind und uns viel bewegt haben, gemalt, improvisiert, erzählt und so weiter. Dann sind nach und nach Arbeitsgruppen entstanden, und daraus dann Beziehungen, die ich versucht habe, mit allen Beteiligten zu vertiefen“, erzählt Rosenberg.
Anderthalb Wochen vor Premiere wird zum vorletzten Mal am angestammten Ort geprobt: In der Turnhalle der Schule am Bienwaldring markieren vier Bänke die Bühne. Auch die Live-Kamera gibt es noch nicht, sie muss mitgedacht werden. Björk singt „You have to trust me“, Frank Wolff improvisiert auf dem Cello dazu. Je eine Schülerin und ein Golden Gorki bilden ein Paar und tanzen zusammen. Anfangs kauern die Älteren am Boden, und die Jungen berühren sie, um sie zu wecken. Die ersten Bewegungen der Älteren sind abgehackt, ähneln Robotern. Allmählich kommen sie ins Tanzen, und je nach Paar variiert der Tanzstil. Als sie fertig sind und am Übergang zur nächsten Szene stehen, klatschen die anderen Spieler*innen und das Team, die zwei Pädagoginnen, die außer Friederike Jentsch noch dabei sind, die Dramaturg*innen, die Regie-Assistentin. Es liegt Begeisterung im Raum, und gleichzeitig ist klar, dass es ständig Ermutigung braucht, wenn zum Beispiel Ece mitten in ihrer Szene aussteigt und sich ärgert, weil sie ihren Text vergessen hat.
In der Pause erzählt eine andere Schülerin von ihren zwei Szenen, in denen sie über ihre Oma spricht und über ihre beste Freundin – und betont, dass das ihre eigenen Geschichten sind. Frederika, die lieber mit ihrem Bühnen-Namen Titos angesprochen werden will, macht die Runde und fragt, wem sie ein Glas Wasser mitbringen soll. Annette, seit neun Jahren Golden Gorki, erzählt von ihren Enkeln, „bei denen weiß man auch immer nicht, was sie als nächstes machen“.
Raum für Reflexion
„Interessant finde ich immer noch, wie viel eigentlich im Nachhinein von Anfang an schon klar war, ohne dass man das von Anfang an gewusst hätte“, sagt Ron Rosenberg. Der Reflexion wird viel Raum gegeben, wenn im Nachgespräch zur Probe jede*r einzelne die eigenen Eindrücke schildern soll, was kritische Anmerkungen produziert, neue Ideen – und offenlegt, wer weshalb auf wen Rücksicht nehmen muss. Nicht nur die Älteren auf die Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen Formen von Behinderungen (u.a. Autismus, Down-Syndrom, Mehrfachbehinderung), sondern auch die Jugendlichen auf die Älteren: „Ihr müsst lauter sprechen, ihr wisst doch, wir hören nicht so gut!“
Im Profi-Theater gibt es immer mehr inklusive Inszenierungen, die Schauspieler*innen mit und ohne Behinderung zusammenführen. Im Bereich des Laientheaters bleiben die einzelnen Gruppen noch eher für sich. Friederike Jentsch will das ändern. Sie wirkt auch jenseits ihrer Arbeit des Ensembles Neukölln 11 darauf hin, die Strukturen für inklusive Theaterarbeit zu stärken. 2016 hat sie die Gründung des Berliner Netzwerks „Inklusive Theaterarbeit“ mitinitiiert, um „sich gegenseitig auszutauschen, zu vernetzen und inklusives Denken und inklusive Theaterarbeit stärker in Schulen zu verankern“ sowie „inklusive Theaterprojekte auch deutlich sichtbarer in der Öffentlichkeit zu machen“.
Nach der dritten und letzten Vorstellung im Gorki Studio ist das Ensemble in Feierstimmung. „Ich denke, da sind wir uns alle einig, wir wollen unsere Kooperation fortsetzen“, sagt Friederike Jentsch. „Theater und Schule müssen tiefer greifende Bündnisse in der Zukunft eingehen, um Gesellschaft gemeinsam abzubilden, aufzurütteln und auf die Bühne zu bringen.“ Man wolle „zusammen eine neue Ästhetik entwickeln“. „Eine weitere Zusammenarbeit werden wir suchen“, sagt auch Ron Rosenberg, „und die hätte auch den Vorteil, dass man einiges miteinander geschafft hat. Ich finde das manchmal sinnvoller, als immer wieder von vorne anzufangen.“