Auf dem Weg in eine diverse Konzertkultur
Von: Alexander von Nell
Die Anerkennung einer diversen Gesellschaft und der Willen, diese auf unterschiedlichen Ebenen auch abzubilden, ist für viele Kulturinstitutionen nicht nur ein Bedürfnis, sondern existenzielle Notwendigkeit. Die Beratungsangebote der Initiative „Kultur öffnet Welten“ setzen hier an und bieten Unterstützung.
Ein Blick zurück: Es ist der 17. März 1725 und in Paris geschieht Revolutionäres. Dafür werden keine Straßenbarrieren errichtet und keine Munitionslager geplündert – darauf wird die Geschichtsschreibung noch gute 60 Jahre warten müssen – es wird ein Saal im Tuilerienpalast angemietet, der 1.800 Zuhörer*innen und 100 Musiker*innen fasst, darin erklingt gegen Bezahlung Musik. Die „Concert Spirituel“ gelten als erste bürgerliche Konzertserie Europas und entstanden in bürgerlicher Auflehnung gegen die in der höfischen Konvention gefangenen Musikveranstaltungen. Wieso sollten nur die Höflinge in den Genuss großbesetzter Musik kommen? Das sah das aufstrebende Pariser Bürgertum schlicht nicht mehr ein.
Ein weiterer Blick zurück: Es ist der 1. September 1962 und in Wiesbaden geschieht Revolutionäres. Dafür wird kein teach-in veranstaltet und niemand geht Parolen skandierend auf die Straße – das geschieht erst in den Folgejahren in den größeren Städten West-Deutschlands - im städtischen Museum werden die „Fluxus Internationale Festspiele Neuester Musik“ veranstaltet. Gleich im ersten Konzert der Reihe wird die Komposition Piano Activities von Philip Corner aufgeführt. In der Interpretation von George Maciunas kommen Brechstangen, Hämmer und Sägen zum Einsatz – und das Klavier ist am Ende der Performance komplett zerstört. Zweifellos ein Akt der Auflehnung gegen die inzwischen bürgerliche Konzertkonvention. Dennoch traut man sich nicht, den geschützten Raum des Konzertsaals zu verlassen.
Nur unwesentlich später gibt der Komponist und Dirigent Pierre Boulez dem „Spiegel“ ein Interview und antwortet auf die Frage, ob er glaube, sein modernes Musiktheater in einem der deutschen Opernhäuser verwirklichen zu können: „Ganz bestimmt nicht. […]. Die neuen deutschen Opernhäuser sehen zwar sehr modern aus - von außen; innen sind sie äußerst altmodisch geblieben. […]. Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, daß dies die eleganteste wäre?“
Man kann davon ausgehen, dass diese und andere mehr oder minder radikalen Ideen in den Feuilletons und unter Szene-Kenner*innen auf Interesse stießen. Gleichwohl hätten weder die Kulturpolitik noch die Rezipient*innen die Zerstörung des bürgerlichen Konzertritual goutiert, in denen man sich doch (gerade eben erst) so gemütlich eingerichtet hat.
Nur zehn Prozent der Bevölkerung bilden das „klassische“ Kernpublikum
Hilmar Hoffmanns Slogan von der „Kultur für alle“ (1979) zum Trotz zeigen neuere Untersuchungen (z.B. Mandel/Renz, 2010), dass das Kernpublikum für klassische Kulturangebote nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfasst. Eine Gruppe die durch überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse gekennzeichnet ist und ohne Übertreibung dem besonders privilegierten Teil der Gesellschaft zuzuordnen ist.
Ein Blick in die Gegenwart: 2019, haben wir es uns vielleicht schon zu lange mit der eigenen Selbstbespiegelung, den großen Traditionen in den samtbezogenen Sesseln bequem gemacht, um die gesellschaftliche Relevanz des Musiklebens deutlich zu machen? „Wenn ein Orchester nicht sein Publikum repräsentiert, stellt sich sofort die Frage: Warum sollte ein solches Orchester existieren?“, so die provokante Frage des Dirigenten Kent Nagano, der darauffolgend die Erfolge seines Orchestre symphonique de Montréal in der Arbeit mit der es umgebenden (Stadt)Gesellschaft hervorhebt. Er hält uns von Nordamerika aus den Spiegel vor. Denn ganz besonders in Deutschland gilt: Orchester und Konzerthäuser werden öffentlich durch die Steuergelder der Gesamtgesellschaft finanziert und haben damit auch die Aufgabe, ihre Angebote möglichst umfassend der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen und nicht nur den zehn Prozent, die sowieso immer kommen.
Dazu muss man natürlich wissen, wie sich diese Gesellschaft überhaupt zusammensetzt, denn dort ist deutlich mehr in Bewegung geraten, als in den Konzertsälen zwischen 1725 und 2019: Die Vielfalt von Lebensentwürfen und -modellen ist inzwischen weitgehend anerkannte Realität, der demografische Wandel, die Einkommensentwicklung und -verteilung sowie Zuwanderung führen zu einer zunehmend sichtbaren Diversität und Heterogenität der Gesellschaft. Und der gesetzliche Rahmen ist formuliert:
Da ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006, das „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern und beseitigen soll“ und damit die allgemein anerkannten Dimensionen von Diversität mitdenkt. Da ist die Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung („UN-Behindertenrechtskonvention“) durch Deutschland im Jahr 2009, welche die Teilhabe am öffentlichen Leben von Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen verlangt, und schließlich die Anerkennung von Deutschland als Einwanderungsland: Kommunen wie Neuss reagieren darauf mit ihrem interkulturellen Stadtkonzept „Neue deutsche Stadtgesellschaft“. Und nicht zuletzt bemüht sich auch die Bundesgesetzgebung seit Mitte der 2000er Jahre in diesem Punkt Klarheit herzustellen.
Eine diverse Gesellschaft anerkennen und abbilden
Und die Kultur? Längst findet vielerorts ein Austausch darüber statt, wie das Konzertleben geöffnet werden kann; wie sich Kulturinstitutionen im Kontext der gesellschaftlichen Realität aufstellen können – und müssen. Nicht zuletzt der Junge Ohren Preis zeichnet jedes Jahr herausragende Programme aus, die insbesondere die Partizipation junger Menschen am Konzertleben ermöglichen und ein neues und vielfältiges Publikum ansprechen. Auf die Frage nach kultureller Teilhabe und Vielfalt flächendeckend Antworten zu finden, wird entscheidend für die Weiterentwicklung des Konzertwesens und seinen Stellenwert als verbindende kulturelle Praxis sein. Die Anerkennung einer diversen Gesellschaft und der Willen, diese auf unterschiedlichen Ebenen auch abzubilden, ist daher konsequenterweise für viele Kulturinstitutionen nicht nur ein Bedürfnis, sondern existenzielle Notwendigkeit. Die Beratungsangebote der Initiative „Kultur öffnet Welten“ setzen hier an und bieten Unterstützung.
Grundlage für einen Beratungsprozess ist die Analyse der vorhandenen Strukturen einer Institution in den vier Säulen Publikum, Personal, Programm und Partner. Diese werden darauf befragt, wo bereits Potenziale vorhanden sind und intern gefördert werden können. Ebenso werden Leerstellen aufgedeckt und erörtert, wo Ressourcen und Kenntnisse erweitert werden müssen, um dem Anspruch eines barrierearmen und teilhabeorientierten Angebots gerecht zu werden.
Zentraler Bestandteil der Analyse ist eine grundsätzliche Verständigung darüber, was das Mitdenken einer diversen Gesellschaft für ein Kulturunternehmen bedeutet: Dazu aktiviert „Kultur öffnet Welten“ sein umfangreiches Netzwerk an Expert*innen aus unterschiedlichsten Bereichen, die im Rahmen von Workshops und Impulsen ihre Praxiserfahrungen weitergeben.
Horizonte erweitern und Möglichkeitsräume eröffnen
Ohne Frage ist im Kulturbereich vieles in den vergangenen Jahren „aus dem Bauch“ heraus, häufig auch richtig, gemacht worden. Um aber nachhaltig und erfolgreich Fragen von Diversität und Öffnung in die Strategie einer Institution zu integrieren, bedarf es einer zielgerichteten Projektierung von Maßnahmen für Publikum, Personal, Programm und Partner. Dieser Prozess führt oftmals und bewusst über die Ränder der eigenen Komfortzone hinaus. Wer im realen, wie übertragenen Sinne Türe öffnen möchte, muss auch die Erfahrung machen, dass das Kraft verlangt, dadurch gleichzeitig Horizonte erweitert und neue Möglichkeitsräume eröffnet werden.
Das Betreten neuer Räume ist dabei in vielen Fällen wörtlich gemeint. Denn die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Zuständen führt schlüssig dazu, den Konzertsaal öfter mal zu verlassen. In vielen der Beratungen spielt der „ländliche Raum“ eine wichtige Rolle für die Planung und Konzeption. Erfahrungen in Ansprache und Partizipation des Publikums von ländlichen Kulturprojekten lassen sich auf vielen Ebenen ausgezeichnet auf die Arbeit der Orchester übertragen. Das Schaffen von gesellschaftlichen Begegnungsorten, in denen man sich aufeinander zubewegen und die man sich zu eigen machen kann, ist ein zentraler Baustein für eine gelingende Diversifizierung des Konzertlebens. Und schließlich steht der hochspezialisierte Leistungsverbands Orchester selbst für ein vielfältiges Miteinander, wie Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters zur Eröffnung der Konferenz „Kulturelles Erbe in Europa“ am 26. Juni 2018 in Brüssel auf den Punkt brachte: „Hier [im Orchester] gelingt, was wir uns für Europa wie auch für Europas Rolle in der Welt wünschen: das Zuhören und Einfühlen, das Lauschen auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise, das Miteinander des Unterschiedlichen.“
Leicht veränderte Version des zuerst im Magazin „Best of Junge Ohren 2019“ (Juli 2019) veröffentlichten Beitrags.
Alexander Nell leitet den Bereich Consulting des Netzwerk Junge Ohren und ist Ansprechpartner für alle Inhouse-Schulungen für Musikinstitutionen und Kultureinrichtungen sowie Fragen des (diversitätsorientierten) Change Managements.
Literatur:
Mandel, Birgit / Renz, Thomas (2010): Barrieren der Nutzung kultureller Einrichtungen. Eine qualitative Annäherung an Nicht-Besucher, Hildesheim.